
Über die Unanständigkeit, von sich selbst zu sprechen
bei »Hejira« und »Clouds« von Joni Mitchell
Leipziger Buchmessenwoche. Laut Ankündigung soll Sven j. Olsson dort auch aus meinem neuen Buch lesen, wofür ich mich bedankt habe. Jutta und ich können leider nicht dabei sein, denn wir sind beide gesundheitlich sehr angeschlagen, sie mit schwersten Zahnschmerzen, ich mit Bronchitis und leichtem Fieber. Gegen Morgen trotzdem ausführliche Träume, in denen ich das Personal des Schrapenbüll-Romans sortierte. Eine Gruppe von Personen, wozu u.a. die Ls gehörten, nannte ich im Traum »Die Unwissenden«. Das Dumme ist, dass es mir auf der bewussten Ebene so vorkommt, als sei angesichts meines schlechten Gesundheitszustandes und der inzwischen erfolgten Veröffentlichung der »Unerzählbaren Geschichte« alles beendet. Während auf der unbewussten Ebene neue Romane konzipiert werden.
Mit Nathalie die Produktion eines kleinen Werbe-Videos für meinen Instagram-Kanal verabredet, um dort das neue Buch vorzustellen.
Warum schreibe ich das? Nun gut, es ist natürlich eine blöde Frage. Das hier ist schließlich mein BLOG, da kann ich schreiben, wozu ich gerade lustig bin. Die Frage ist im Grunde nicht, warum ich es schreibe, denn es ist mein Journal, mein Tagebuch oder doch ein Teil davon. Es dient mir der Selbstreflexion, hier lege ich, wenn mir danach ist, Rechenschaft ab, womit ich meine kostbare Lebenszeit verbracht habe, formuliere Gedanken aus, die mir sonst verloren gehen würden. Ja, sie ist kostbar, die Lebenszeit, denn ich habe nur sie, und sie ist sehr knapp. Die Frage ist vielmehr, warum es jemand liest, dafür muss der Leser selbst einen Grund finden. Nun wäre das unproblematisch, wenn ich meine Aufzeichnungen irgendwo tief im Keller machen würde, vorzugsweise im Dunkeln, oder sie nach dem Aufschreiben sofort verbrenne. So leben ja die meisten Menschen. Am Ende ist es, als hätten sie ihr Leben im Dunklen verbracht, und ihre Erinnerungen bestehen bestenfalls aus einigen verwischten Touristen-Bilder, die ebenso ausschauen wie bei zigtausenden anderen Touristen.
Nochmal, warum schreibe ich das? Jetzt kommen wir zum Punkt: Ich schreibe es, weil ich in diesem noch so kurzen Jahr bereits dreimal beschimpft worden bin, weil ich mein Leben bzw. etwas von meinem Leben in dieser Weise aufzeichne. Und eben nicht im dunklen Keller, sondern sogar in der Öffentlichkeit. Die erste dieser Beschimpfungen erreichte mich von einem Schriftsteller-Kollegen, den ich nun bald seit 50 Jahren kenne. Er hatte sich gewissermaßen darum beworben, meinen Journal-Band der Jahre 2008-2011, der im frühen Herbst unter dem Titel »Im Totenwald« erschien, zu rezensieren. Ach, schrieb er, da könne er endlich mal wieder eine Besprechung anfertigen. Daraus wurde dann die Beschimpfung. Das Buch würde ja hauptsächlich von mir handeln! Wie unverzeihlich! Eine Nabelschau, nannte er das. Seither schweigt er mich an, was ich besonders deshalb recht schade finde, weil wir beide schon so alt sind, dass wir viele künftige Möglichkeiten kaum noch haben dürften.
Die zweite Beschimpfung schenkte mir ein Verwandter, der ganz ohne mein Wissen den Journal-Band »Kein Jahr der Liebe« gelesen hatte, in dem ich mein Jahr 1989 in der Villa Massimo in Rom festgehalten hatte. Insbesondere beklagte er sich über zwei Textstellen. In der ersten erwähne ich „Brötchen“, die ich am Abend meiner Ankunft in Rom geschenkt bekam. Wer sich für solch einen Mist denn interessieren solle!? Was ich mir einbilde!? Er schrie mich tatsächlich an, aber Verwandte dürfen das wohl. Und dann kam der kolossale Satz, als wäre damit nun alles bewiesen: »Du bist kein Genie!« Nun hatte ich das zwar auch nie behauptet, aber was bitte wollte er damit sagen? Hätte er mir erlaubt, über Brötchen zu schreiben, falls ich ein Genie gewesen wäre? Oder findet er die Brötchen eines Genies interessanter als meine? Ich musste an den kleinen Witz denken: »Es ist wahr, auch ich mache Pippi, sagte einmal ein Genie. Jedoch aus anderen Gründen.« Die zweite Textstelle, die er in dem 320 Seiten langen Band bemängelte, handelte von einem Besuch in einer Grabstätte der Etrusker. Er schickte mir sogar den Link zu einer Wiki-Seite über einen italienischen Altertumswissenschaftler, der die Zeitvorstellung der Etrusker besser begriffen habe als ich. Okay, das lasse ich mal so stehen. Wäre ja möglich.
Die dritte Beschimpfung war nicht ganz so irrsinnig und wurde wohl auch gar nicht vom Schimpfenden als Beschimpfung empfunden. Er kam von einem Leser, der »diese ganze Vergangenheit« ablehnte. »Es geht doch um Vergangenheit, oder? Oder hab ich da was nicht richtig gelesen? Habs nur überflogen, ich bin müde und muss noch mit dem Hund raus.« Ich war kurz versucht, darauf zu antworten, dass man ohne Vergangenheit gar kein Leben habe, ließ es dann aber, verzichtete auf eine Antwort.

Ich denke, in allen drei Fällen ist der Stein des Anstoßes der selbe. Es geht darum, dass ich mir herausnehme, selbst die Stimme zu erheben, dass ich mich für ausreichend wichtig nehme und mir erlaube, von mir zu sprechen, was ich vielleicht dürfte, wenn ich ein Genie wäre oder Thomas Mann hieße. Dann würde das neugierige Leservolk kommen und Eintragungen lesen, wie: »Nachts schlecht geschlafen. Eine halbe Phanodorm genommen. Nach dem Schreiben Spaziergang mit dem Hund.« Und ähnliche Wichtigkeiten auf tausenden von Seiten. Ich erinnere die Menschen daran, was sie selbst zu verdrängen pflegen und schon in der Kindheit eingebläut bekamen. Man spricht nicht von sich selbst! Man spricht auch nicht bei Tisch! Vor allem spricht man nicht, wenn Erwachsene sprechen. (Davon handelt noch der ganze überlange Anfang des 2. Buches von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«) Das tut man alles nicht! Das ist nämlich UNANSTÄNDIG – ungezogen! Und die Vergangenheit, die lassen wir doch am besten ruhen. Wer weiß, auf was wir stoßen würden, wenn wir den Stein der Vergangenheit von der Tür wegwälzen. Am Ende ist die Vergangenheit gar nicht tot und steht wieder auf. Das darf doch nicht sein!
Vor Jahren schrieb ich mal ein Gedicht. Es heißt: Ich singe den Schatten
Es ist nicht besonders gut. Aber das macht nichts, ich bin ja kein Genie. Aber es ist kraftvoll.
Ich singe den Schatten
Den Schatten sing ich, den Ihr
unter Eure Füße tretet; den meinen auch.
Die Tränen und die Lügen, Versagen und
Verrat, Angst, Trauer, Depression,
alles entdeckt seinen wahren Namen,
wenn ich für Euch singe.
Den Dieb in der Nacht singe ich, der,
ins Licht gezerrt, das Antlitz eines Sohnes
zeigt. Ich singe das, was lebenslang
Euch schon den Mund verschließt
und in den Kummer treibt.
Ich singe den Schatten, den Sack
voll Asche, den Ihr mit Euch schleppt.
Meine braven Kinder verleugnen mich.
Sie fürchten, dass die alte Krähe
an ihren blassen Augen
den gelben Schnabel wetzt.
Selbst meine Freunde lästern: Er ist nicht
mehr modern. Und das ist wahr. Ich bin uralt,
wie das Reptil, das sich in Eurem Hirn
versteckt, Blut säuft und die Krallen fetzt,
in Schlamm und weichem Fleisch.
Alt wie die Wurzeln der Esche,
die tief in Dunkelheit und Tod
nach Nahrung gräbt, von der Ihr
nichts wissen wollte. Ihr Verkäufer der
blanken, jungen Blätter hoch im Licht.
Doch ich befreie die Sklaven unter der Borke
Eures Charakters von ihren Fesseln.
Die grauen Träume aus verschwitzten Betten
häng ich für Euch in frischen Wind.
Ihr fragt warum? Ich weiß es nicht.
Der, der den Schatten singt, ist
ein alter Sänger, der sich nicht erklärt.
Ich weiß nur, dass er singend weint,
um jenes ferne Kind, das man in uns erschlug.
Tja, das wollte ich Ihnen heute erzählen. Auf mein neues Buch »Die unerzählbare Geschichte« trifft übrigens alles das zu, wovon ich hier geschrieben habe. Ich spreche darin von mir selbst (und von anderen, von denen nicht wenige mir gern den Mund verboten hätten.) Dazu erzähle ich von der Vergangenheit, die übrigens gar nicht vergangen ist. Sie ist so gegenwärtig, dass sie sich sogar zur Wahl in die Parlamente aufstellen lässt. Ich könnte Ihnen problemlos die Prozentsätze mitteilen, mit denen sie, diese Vergangenheit, gewählt worden ist. Aber das wissen Sie sicher längst alles. Und wen interessiert so ein Mist eigentlich?
Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG

2 Kommentare
Robert K. Staege
Werter Herr Gogolin,
gegen Beschimpfungen kann man, anders als gegen Beleidigungen, nichts machen. Allerdings verlieren Erstere mit dem Ende der Kindheit ihre Relevanz völlig. Man erträgt und vergisst sie. Gegen die Beleidigung gibt es dagegen ein probates Mittel, – den Niveau-Unterschied. Sich mit der/dem Beleidigenden einfach nicht auf eine Stufe stellen, – darüberstehen. Insofern sind sich Beschimpfung und Beleidigung nicht unähnlich. Ich finde es gut, wie humorvoll sie die Niveaudiskrepanz ausgestalten.
admin
Das ist natürlich wahr, lieber Robert K. Staege, und ich vergesse auch tatsächlich sehr schnell. Für meine Seele ist das gut, denn es erspart mir, mit dem Gewicht von Ressentiments durchs Leben zu laufen. Die andere Seite (nennen wir es mal so) nimmt aber gerade das wieder übel und greift oft erneut an. Und ich bin dann ungeschützt. Kurzum, ich bin für die freie Wildbahn wenig geeignet.