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Sich aus dem Fliegenglas befreien

Mittwoch, 29. Jan 2025, bei Peter Gabriels Album i/o

Zwar glaube ich nicht an Sternzeichen, Horoskope etc., aber das Jahr des Drachens (laut chinesischem Kalender) liegt seit gestern hinten uns. Es war gut zu mir und der Liebsten, denn sie konnte in diesem Jahr ihren vielfach gebrochenen rechten Arm nach zehn Monaten langsam wieder benutzen, und ich wurde vom zweiten Karzinom meines Lebens befreit. Also will ich dem vergangenen Jahr ausdrücklich DANKEN. Wenn mein Mandarin besser wäre, ich täte es in der angemessenen Sprache. 謝謝

Was war sonst noch? Trotz vieler Querelen ist nach meinem Rom-Journal »Kein Jahr der Liebe« im Herbst der zweite Band meiner Journal-Reihe erschienen. »Im Totenwald – Journal 2008-2011«, das u.a. die letzten Jahres meines Kampfes um meine Rückkehr auf den Buchmarkt dokumentiert. Eine ganz interessante Besprechung gibt es dazu auf der Web-Plattform Faust-Kultur. Für den Wiesbadener Kurier ist eine weitere angekündigt. Der Autor Uwe Friesel hatte vorher dazu ebenfalls bereits geschrieben, doch ist diese Rezension bisher nur auf der Seite des Verlages eingestellt worden. Das ist an öffentlichen Reaktionen alles nicht sonderlich bedeutend, doch für mich, der ich an ein jahrzehntelanges Schweigen hinsichtlich meines Schreibens gewöhnt bin, ist es zumindest erwähnenswert.

Oder sagen wir es anders: Ich bin nicht bereit, mich an die vollständige Erfolglosigkeit meiner Arbeit zu gewöhnen, mich abzufinden mit dem hundertprozentigen Schweigen vor jedem meiner Bücher. Im vergangenen Jahr habe ich einen Menschen, der mir lebenslang wichtig war, darauf angesprochen. Und ich erhielt dazu die Antwort: »Es interessiert mich einen Scheiß. Und auch wenn du dafür den Nobelpreis erhalten solltest, ich würde es mir nicht einmal ansehen.« Natürlich war dieser Mensch von der Sorte, die mir ihrerseits jede Blähung ihres überragenden Geistes mitzuteilen pflegte, meist gleich nach dem Aufstehen. Ich habe ihn naturgemäß aus meinem Leben entfernt.

Natürlich sind nicht alle so offen arschtreterisch: Es gibt dieses Phänomen in allen Abstufungen und Intensitäten. Wie lange kann man oder muss man den dummen Kerl anschweigen, bis er endlich mal begreift, dass er einem mit seinen Büchern am A. … vorbei geht? Naja, kommt auf den Grad der Dreistigkeit an. Meine Mutter, sie ruhe in Frieden, hat nicht mal Antwort bekommen, wenn sie ihren Enkelkindern zum Geburtstag Geldgeschenke machte.

Vor Jahren hat mir ein befreundeter Schauspieler, natürlich in Bezug auf seine eigene Tätigkeit, mal gesagt: »Es ist Missbrauch, wenn einem der verdiente Lohn für die Arbeit vorenthalten wird.« Ich hätte es niemals so ausgedrückt, aber es stimmt. Und es gibt eine Menge Leute, von denen ich mich in den letzten Jahrzehnten in dieser Weise regelrecht missbraucht fühle. Eine interessante Geschichte gibt es, die, wie ich finde, sehr anschaulich beschreibt, was ich meine, wenn ich sage, dass ich nicht mehr bereit bin, mir das bieten zu lassen. Wenn man Fliegen in ein Glas einsperrt, indem man es mit einem Deckel verschließt, dann werden sie in dem engen Raum des Glases herumfliegen und sich daran gewöhnen. Entfernt man dann den Deckel nach Tagen, so werden die Fliegen trotzdem nicht aus dem Glas herauskommen. Sie haben für immer gelernt, dass ihn das nicht möglich ist. Emporfliegen werden sie nur bis zu der Höhe, wo ihnen vorher der Deckel den Aufstieg versperrt hat. Und der Witz ist, es gilt auch für die nächsten Generationen der Fliegen, sie werden ebenfalls dieses Verhalten zeigen, es ist also erblich. Trauma-Therapeuten benutzen diese Geschichte gern, um die Auswirkungen von erlittenen Traumata zu illustrieren. Mir hat sie z.B. geholfen, die Geschichte meiner Mutter besser zu verstehen. Und mir selbst … ach, lassen wir das. Ich arbeite weiter.

Die erste Fahnen-Korrektur meines neuen Buches »Die unerzählbare Geschichte« ist ebenfalls erledigt. Es war zwar nur Arbeit für eine Woche, doch intensivste Arbeit, über acht Stunden täglich. Im Frühjahr wird das Buch, das in den Jahren zuvor den Arbeitstitel »Ein paar Dinge, die ich über mich, meine Eltern und Auschwitz weiß« trug, auf der Leipziger Messe erscheinen. Ich wurde mit der ersten Fahnen-Korrektur gewissermaßen pünktlich zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz fertig. Es werden, sobald es erscheint, zehn Jahre Arbeit hinter mir liegen.

In meinem Garten herrschen ungewöhnliche 12 Grad, die Vögel beginnen schon, ihre Nester zu bauen. Ich sorge mich, dass sie zu brüten beginnen und dann einem Kälteeinbruch zum Opfer fallen.

Seien Sie keine eingesperrte Fliege
wünscht Ihnen PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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