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Stuff coming out, Stuff going in

Montag, 2 Dezember 2024, bei Peter Gabriesl i/o

SIEH DIE GRÄBER
die ungezählten,
lebender und ewiger König.
Sieh das Blut, die Tränen,
der Ungetrösteten,
in der Ukraine, Israel,
im Libanon und Syrien.
Denk an Joseph,
Jakobs Liebling,
durch Gaza verschleppt,
nach Ägypten verkauft
als Sklave. Hilf uns, dass
wir nicht den Rock des
Bruders in Blut tauchen.
Sieh all die Gräber!
Es gab doch eine Zeit, da ich
mein Herz nicht von dem
Deinen unterscheiden konnte.
Dein Knecht weint.
Sieh die Gräber!

Nach fast sieben Monaten mal wieder hier, um ein paar Zeilen zu hinterlassen, bei Nebel im kahlen Wintergarten und dem Gedanken, dass niemand das Leben in seiner Banalität genauer bezeichnet hat, als Peter Gabriel in seinem Song „So Much“ mit den in der Überschrift zitierten Verszeilen „Stuff coming out, Stuff going in“, wobei man das neutrale „Stuff“ nicht mal durch Shit oder gar Mist ersetzen muss, um auszudrücken, dass das Leben des Jahres 2024 so neutral nicht war; jeder mag da seine Lieblingsvokabel einsetzen.

Natürlich gab es vom wirklich üblen „Mist“ überreichlich in diesem Jahr. Ich hätte wohl kaum so lange Monate geschwiegen, zwangsgeschwiegen genauer gesagt, wenn das anders gewesen wäre. Obwohl sich vieles davon im Nachhinein als ein Glück herausgestellt hat. Das gilt ebenso für meine zweite Karzinom-Operation zu Jahresbeginn, nach der ich tagelang am Schmerztropf hing, wie für die Auseinandersetzung mit dem massiven Versagen des Verlages, der sich, ginge es mit rechten Dingen zu, gar nicht „Verlag“ nennen dürfte, weil er die wesentlichste Bedingung dafür gar nicht erfüllt, was zum Rückzug meines Buches führte. So wird das lange angekündigte Buch „Ein paar Dinge, die ich über mich, meine Eltern und Auschwitz weiß“ zwar nicht erscheinen, aber dafür bin ich den fürchterlichen Buchsatz einer so unfähigen wie unwilligen Setzerin los und das grauenhafte Cover, für das ein Möchtegern-Maler die dilettantische Bildvorlage geliefert hatte. Kein Nachteil ohne Vorteil, wie meine verstorbene Schwiegermutter so treffend zu sagen pflegte; vor ihrem Tod natürlich. Ähnliches gilt für die Königin der Krankheiten, das Karzinom, von der ich mich nun das zweite Mal in meinem Leben habe verabschieden dürfen. Also Adé Lady, Cancro Regina, Deine hormonellen Spuren, die Du so gerne zu hinterlassen pflegst, sind bei mehrfachen Nachuntersuchungen während des Jahresverlauf konstant unter der Nachweisgrenze gewesen.

In gewisser Weise war das Jahr also eine „Gestörte Landschaft“, wie Bruce Chatwin mal treffend über eine Filmszene von Werner Herzog gesagt hat, aber ich bin bei ihrem Anblick nicht verrückt geworden, wie es dem Filmhelden bei Herzog passiert ist.

Ich habe stattdessen trotz aller Belastungen immer wieder neu zu arbeiten versucht und es dabei geschafft, den zweiten Band meiner Journal-Reihe zum Druck fertig zu machen. Er ist jetzt unter dem Titel „Journal 2008-2011 ‚Im Totenwald‘ erschienen und hat sogar bereits eine Rezension erhalten, die ich nicht verschweigen will. Da heißt es, das Buch sei ein:

Imposantes Zeugnis des Widerstehens

Peter H.E. Gogolins „Im Totenwald: Journal 2008-2011“ ist ein imposantes Zeugnis des Autors, der sich in diesem Buch durch die dunkelsten Täler des Lebens kämpft, um wieder auf die lichten Ebenen zu gelangen. Das literarische Tagebuch erzählt von Verlust, Ablehnung und schließlich einem kraftvollen Neubeginn. Es ist mehr als nur eine autobiografische Sammlung – es ist eine Chronik von Resilienz und unerschütterlichem Glauben an die eigene Kreativität.

Das Werk beginnt mit dem tiefgreifenden Zusammenbruch nach dem Tod des Vaters. Dieser Verlust erschüttert Gogolins Leben bis ins Mark und bringt ihn an den Rand des Aufgebens. Doch die Rückschläge werden zum Motor seiner Erzählung. Besonders eindringlich schildert er die unglaublichen 122 Ablehnungen seines Romans „Calvinos Hotel“ – ein Tiefpunkt, der ihn nicht zerbricht, sondern formt. Der spätere Erfolg des Romans, der als „einer der vielleicht größten deutschsprachigen Romane des letzten Jahrzehnts“ gefeiert wurde, gibt dem Journal eine formidable Wendung.

Bewegend und inspirierend sind die Schilderungen seiner Begegnung mit der Verlegerin Simone Barrientos, die zur Wegbereiterin seines Neubeginns wird. Die Aussage „Keiner kehrt nach 21 Jahren zurück. – Aber du kehrst zurück.“ wird zu einem Leitmotiv des Buches und spiegelt den Mut wider, nach langen Jahren des Scheiterns doch wieder einen Neuanfang zu wagen.

Stilistisch überzeugt „Im Totenwald“ durch eine Mischung aus poetischen Reflexionen, präzisen Beobachtungen und philosophischen Einsichten. Gogolins Sprache ist klar und voll Kraft, poetisch und präzise, sie ist sein Skalpell.

„Im Totenwald“ – Gogolins Werk erinnert daran, dass es einen Weg aus dem „Totenwald“ gibt – man muss nur das Glück haben, ihn zu finden und den Mut haben, ihn zu gehen.

(C) LS – Cultureglobe

Und die ZEIT, ihn zu gehen, möchte ich hinzufügen. Denn, ehrlich gesagt, dieser Weg, heraus aus dem Totenwald, hat enorme Teile meines Lebens gefressen. Und nicht nur meines.

Ah ja, das sei noch erwähnt: Ich gebe auch mit dem Buch „Ein paar Dinge, die ich über mich, meine Eltern und Auschwitz weiß“, das mir vom Verlag zerstört schien, nicht auf. Es ist jetzt vorgesehen, dass es im kommenden Frühjahr zur Leipziger Buchmesse erscheinen wird. Allerdings unter dem neuen Titel „Die unerzählbare Geschichte“, mit einem neuen Mittelteil zu der Frage „Warum ich kein Jude sein wollte“ und einem zusätzlichen Schluss, mit dem ich mir gewissermaßen selbst den Boden unter den Füßen weggezogen habe. Nun bin ich völlig heimatlos bzw. meine einzige Heimat ist das Schreiben und der einzige Mensch, mit dem ich lebe. Heimatlos, ja aber das musste um der Wahrheit Willen sein. Und ich sage nichtmal „leider“ dazu, denn was soll man mit einer eingebildeten Heimat, einer, die zwar nicht auf einer Lüge jedoch auf einer lebenslang verschwiegenen Wahrheit beruht?

Am Ende eines Pressegesprächs für das „Journal 2008-2011 Im Totenwald“ wurde ich gefragt: „Was läßt Sie schreiben? Weiter und immer weiter?“ Darauf habe ich geantwortet: Ich halte mich für einen alten Juden, der Tag für Tag versucht, einige Zeilen des von den guten Christenmenschen so oft verbrannten Buches auf meine Weise neu zu schreiben. Meine Bücher, – es sind wohl inzwischen fünfzehn oder sechzehn –, sind Fragmente dieses verbrannten Buches.

Juden und Worte, das ist ein ganz besonderes Kapitel. So ist die Sprache mein Heimatland. Und sowohl meine Journal-Bände, die mit dem Buch „Kein Jahr der Liebe“ über mein Rom-Jahr 1989 begannen und das kommende Buch über „Die unerzählbare Geschichte“ sind Bücher der Erinnerung.

Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.
Das wünsche ich auch Ihnen, Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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