Nicht dazu verhalten müssen
Mittwoch, 26. April 2023, bei „What took you so long“ vom Espen Eriksen Trio
Jetzt seit fast einer Woche in den Fängen der Erkältung, mit allem was dazu gehört, inclusive Herpes, der aus meiner Oberlippe gefühlt ein rohes Stück Fleisch zu machen versucht. Nun ja, das schützt mich zumindest vor solch dummen Vorhaben, wie dem sinnlosen Herumlaufen auf Buchmessen oder ähnlichen Orten. Interessant finde ich, soweit an einer Erkältung überhaupt etwas interessant sein kann, dass sie exakt zehn Minuten nach dem Abschluss meiner abschließenden Manuskriptkorrektur ausbrach, als habe sie das Ende der Arbeit abgewartet. Ich konnte das fertige Manuskript gerade noch an den Verlag senden, da tropfte mir die Nase auf die Hände.
Kurz gesagt, ich bin also wegen Manuskriptablieferung und Infekt seither ohne Arbeit, räume den Schreibtisch auf, lese etwas, schlafe viel und trinke viel Wasser und Tee, dazu Tropfen, Tabletten etc., na, man kennt den Kram, dabei habe ich viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Unter anderem zum Nachdenken über drei Reaktionen, die ich auf meine Bücher in diesem Jahr bekam. Womit ich keine Kritiken usw. meine, die sind berufsbedingt und fertig. Die Reaktionen, die ich meine, kamen aus der Verwandtschaft und haben mich etwas gelehrt, was Kritiken ja in der Regel nicht tun.
Die erste dieser Erfahrungen ließ sich sehr positiv an. Ich wurde nämlich gebeten, die Daten all meiner Veröffentlichungen, soweit sie lieferbar seien, aufzulisten. Die Verwandte hatte die Idee gehabt, sie allesamt zu kaufen und ihrem Mann zu Weihnachten zu schenken. Das wurde dann die obige Kiste voller Lesestoff, die der Empfänger erstaunt ausgepackt hat. Es waren wohl zwölf, dreizehn Bücher, mehr sind zur Zeit nicht lieferbar. Seither schweigt er mich mit einer Konsequenz an, die erstaunlich ist. Nun denn, war wohl too much für ihn. Was ich anfangs für eine tolle Idee der Ehefrau hielt, führt nun wohl dazu, dass er mich wie die Pest meidet. Das hätte man besser verhindern sollen.
Die zweite Erfahrung bereitete mir ein Verwandter, der mir hin und wieder mailt und dabei auch aus seinem Alltag berichtet, also davon, womit er sich beschäftigt usw. Nun, was tut man daraufhin, wenn man nicht völlig irre sozialisiert sein sollte, man zahlt freundlich mit gleicher Münze zurück, erzählt ebenfalls wie es so geht, was die eigene Arbeit macht etc. Nun fiel mir irgendwann auf, dass er darauf niemals reagierte. Sobald ich was zu seinen Aktivitäten sagte, kam Antwort, meist Richtigstellungen freilich, Korrekturen und gezielte Nachweise, dass ich da etwas nicht verstanden habe. Was leicht möglich war, da er sich vor allem mit Quantenphysik, Plattentektonik und Philosophie beschäftigt. Da bekam ich dann schon mal zu hören, genauer zu lesen, meine Ausführungen zu einem dieser Themen seien „Kuhscheiße auf Toast“. Gut denn, ich kenne ihn leider schon lange und weiß, man darf da nicht empfindlich sein, darum geht’s mir auch nicht. Mir geht es darum, dass er nie eine einzige Silbe zu einem literarischen Thema sagte. Nun muss das natürlich nicht sein, aber immerhin bin ich Schriftsteller, beschäftige mich lebenslang ständig mit Texten und Büchern. Und warum schreibt er mir überhaupt, wenn er dazu nichts zu sagen hat? Das ging so lange, bis ich das Thema ansprach. Darauf bekam ich eine Antwort, die erneut mit einer Korrektur begann und so lautete: „Das ist etwas unscharf formuliert. Es geht nicht darum, dass DU das tust, es könnte auch der Nobelpreisträger XYZ tun, es würde mich nicht interessieren.“ Okay, seither herrscht auch da Ruhe, und ich werde den Teufel tun, mich meinerseits nochmal zu melden, würde es doch nur dazu führen, dass er mir erneut „unscharfes Formulieren“ oder ähnlich gravierende Lebensfehler nachzuweisen versucht.
Der dritte Fall war etwas schmerzlich, aber auch der lehrreichste. Da wollte ich nämlich jemandem zum Geburtstag ein Buch schenken. Und da ich das nicht einfach blind tun wollte, so fragte ich vorher, ob das erwünscht sei. Ich erhielt die Antwort: „Da Du also schon fragst, ob ich Interesse habe, das Buch zu lesen, lehne ich dankend ab.“ Auf meine Nachfrage nach dem warum kam der lehrreiche Satz, dass er vorhersehe, sich zu diesem Buch verhalten zu müssen, sich in Bezug darauf „positionieren zu müssen“ und das wolle er nicht.
Das finde ich grandios und so sehr den gesellschaftlichen Zustand unserer Zeit beschreibend, dass ich auch jetzt noch, Wochen danach, total überwältigt von dieser Reaktion bin. Es beschreibt auch den gesamten Buchmarkt, denn der ist ja übervoll mit Produkten, die man beliebig ex und hopp konsumieren kann, ohne sich dazu in irgendeiner Weise verhalten zu müssen; man konsumiert diese Bücher halt, und fertig. Niemand fühlt sich dadurch zu irgendwas veranlasst oder gar aufgerufen. Rainer Maria Rilke steht mit seiner Einsicht „Du musst Dein Leben ändern!“ wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Dabei hat Rilke damit die grundlegende Seinsweise des Menschen zum Ausdruck zu bringen versucht, die aber wohl nicht mehr gilt.
Ich habe in meinem gesamten Leben niemals ein Buch gelesen, zu dem ich mich NICHT in irgendeiner Weise positioniert habe. Ja, ich finde ein Buch, zu dem ich mich nicht verhalten und positionieren muss, des Lesens überhaupt nicht wert. Und für mein kurzes Restleben wünsche ich mir, dass ich von Büchern, die mir das nicht abfordern, verschont bleibe. Ich würde solche Bücher noch nicht mal anfassen, um damit einen wackelnden Tisch zu stabilisieren.
Mir selbst wird das leicht fallen, denn ich habe meine Bücher um mich herum und werde keine Not leiden. Aber das Erschreckende ist natürlich, dass ich inzwischen in einer Zeit leben muss, in der alle Welt diese Art sinnloser Literatur konsumiert, zu der sich niemand positionieren muss, ach, was sage ich, bei der der Gedanke eines irgendwie gearteten Verhaltens gar nicht aufkommt. Und für diese Zeit schreibe ich? Im Ernst? Das ist lächerlich. Aber egal, schon Hubert Fichte sagte ja, er schreibe für eine Zeit, die keine Bücher mehr hat, vielleicht auch keine Augen mehr.
Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG