Abschied von den Eltern?
Montag, 21. März 2022, bei Mozarts „La Clemenza di Tito“, mit dem Freiburger Baroque Orchestra unter René Jacobs
Eigentlich wollte ich heute einen kleinen BLOG über Lyrik und ihre mögliche Funktion und Wirkung schreiben, zumindest hatte ich mir das gestern vorgenommen. Doch nun kam mir etwas dazwischen, die Poesie wird also noch einen Tag warten müssen.
Wie erzähle ich es? Es ist vielleicht etwas sonderbar. Und vermutlich muss ich viel früher anfangen. Verzeihen Sie, wenn ich herumstammele. Also, es gibt einige Episoden in meinem Leben, nicht sehr viele, vielleicht insgesamt sechs bis acht, die ich nicht anders verstehen oder deuten kann, als dass es sich dabei um Erinnerungen aus früheren Leben handeln muss. Diese Episoden oder Ereignisse, zum Teil sind es umfangreichere Handlungsabschnitte, die ich über Jahrzehnte verteilt erlebte, träumte, erinnerte?, sind inhaltlich sehr verschieden, spielen an so unterschiedlichen Orten wie im Urwald oder im Gebirge, in einem Flugzeug und in einem Zug, aber sie haben alle einige eindeutige Gemeinsamkeiten. Sie sind mir zum einen sehr fremd, lassen sich mit absolut nichts aus meinem realen gegenwärtigen Leben in Verbindung bringen, es gibt darin keine Bilder, Figuren, Orte oder Themen, die an irgendetwas anknüpfen, also auch keine Freudschen ‚Tagesreste‘, die als Traumauslöser wirken könnten. Zum anderen haben sie eine Eigenschaft, die sie zwingend miteinander teilen. Sie sind nämlich gewissermaßen überwirklich, wirken im Erleben so unerhört intensiv, wie normale Erlebnisse oder auch Erinnerungen niemals sind; sie sind also, wenn ich sie erlebe, aus der üblichen Masse von Eindrücken, Erlebnissen, Gedanken oder auch Phantasien derart eindeutig herausgehoben, dass ich ausrufen könnte: „Da! Wieder so eine Geschichte!“ Eine dritte Gemeinsamkeit fällt mir jetzt ein, da ich darüber schreibe. Diese Erinnerungs-Episoden haben mehrheitlich etwas mit Themen wie Weggehen, Fluchten, Verfolgung gar und langen Wanderungen bzw. Märschen zu tun.
Nun, so weit zur Vorgeschichte. Ich muss irgendwo in einem Notizbuch eine Liste von diesen Erinnerungen, nennen wir es mal so, besitzen, mit dem vor Jahren gemachten Vermerk, dass ich unbedingt über alle einmal schreiben muss. Vermutlich tue ich es nie.
Heute nun erlebte ich wieder eine solche „Erinnerung“, wie ich es behelfsweise bezeichnen will. Ich befand mich im Halbschlaf, weiß noch, dass ich das Bett um mich spürte, es war mir sehr bequem, und ich überlegte ungenau, ob ich meine Schlafmaske abnehmen sollte, um zu nachzusehen, ob es schon hell sei. Ich entschied mich dagegen, drehte mich träge auf die andere Seite und befand mich übergangslos, als sei ich in eine fremde Welt gefallen, an einem langen, hölzernen Tisch, mir gegenüber mein Vater, links von ihm meine Mutter, auf meiner Seite saßen andere, vermutlich Geschwister oder Knechte. Aber es war keine übliche Familienszene in einer Küche, denn der Raum war halbdunkel, nur mit ein, zwei Kerzen erleuchtet, hinter dem Vater konnte ich grob behauene Balken erkennen, der Tisch war ebenfalls aus einer dicken, groben Holzplatte gefertigt, schmutziggrau und fleckig. Ich hatte den Eindruck, dass wir Müller waren oder zumindest in einer alten Mühle lebten. Und die Personen, die ich hier als Vater und Mutter bezeichne, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit meinem realen Eltern (in diesem gegenwärtigen Leben zumindest nicht).
Der Vater erklärte mir, dass es nun Zeit für mich sei, die Familie zu verlassen. Es ginge nicht anders, und ich solle mich nicht widersetzen. Ich weiß nicht mehr, ob er sagte, dass man mich nicht mehr ernähren könne. Aber ich erinnere mich, dass ich später daran dachte, dass ich ja auch für die Familie hätte arbeiten können, um sie zu unterstützen, sodass ich nicht fort gemusst hätte.
Tatsächlich widersprach ich dem Vater nicht. Ich sagte stattdessen: „Aber lassen Sie uns nicht so auseinandergehen.“ Danach ergriff ich über den Tisch hinweg seine rechte Hand, an der er einen Ring trug, zog sie zu mir heran und küsste sie. Dann sagte ich: „So werde ich mich später gut an Sie erinnern können.“ Daraufhin reichte mir auch meine Mutter die Hand, ihre Linke, über den Tisch hin, ich küsste sie ebenfalls und erhob mich, um zu gehen. Prompt erwachte ich. Mir war sehr wohl zumute. Ich wusste, dass ich es richtig gemacht hatte.
Ich will keine Spekulationen daran knüpfen, aber das ganze Geschehen erscheint mir doch recht ausgefallen. So war die Szenerie ungeheuer real, und ich hätte mir zum Beispiel das Küssen der elterlichen Hände niemals ausdenken können. Es war die wesentliche Handlung in diesem (nennen wir es mal) Traum. Und es überrascht mich zugleich total. Natürlich habe ich die Hände meiner Eltern nie geküsst. In welcher Zeit, welcher Gesellschaftsordnung küssen Söhne die Hände der Eltern? Und ich weiß, dass ich den Vater mit Sie ansprach.
Fragte man mich, ob ich an Reinkarnation glaube, so wüsste ich keine Antwort. Rein rational betrachtet erscheint mir die Reinkarnation nicht plausibel. Und Beweise dafür, wie sollten sie aussehen, um wirklich genügen zu können. Reinkarnation würde ein ganz anderes Konzept des menschlichen Geistes voraussetzen, ein anderes Modell des Bewusstseins. Ich weiß es nicht, und ich kann nur hoffen, dass ich sie mit dieser Schilderung nicht zu sehr verwirrt habe. Auch brauchen Sie nicht an meinem Geisteszustand zu zweifeln, da ist alles in Ordnung.
Bleiben Sie bitte glücklich
wünscht Ihr PHG
3 Kommentare
Susanne Welp
Ich liebe sowas. Das Unterbewusstsein ist eine wahre Schatztruhe, die ich im Schlaf oder Halbschlaf gerne öffne.Ich habe sogar schon etwas ähnliches erlebt. In einer Art Meditationsübung baute sich in mir eine glasklare Szenerie auf, in der ich in ein altmodisches… sagen wir Magdkleid… gewandet war und eine weisse schlichte Haube auf dem Kopf trug. Ich stand auf einem grasbedeckten Hügel, hinter mir ein dunkler Waldrand. Dieses Bild stand nur Sekunden in mir, um dann wieder ganz und gar zu verschwinden. Aber es berührt mich bis heute immer noch stark, wenn ich daran denke… als sei ich wirklich dort gewesen.
admin
Ja, das ist ziemlich eindrücklich. Man kann es nicht einfach abtun. Aber es ist schwer, sich dazu zu verhalten. Was wäre, wenn es wahr wäre? Müsste man sein Leben ändern?
Susanne Welp
Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht. Es ist ein Fakt, dass man psychische Probleme vererben kann… also über die Gene, nicht durch das Verhalten. Was, wenn sich so ganze Lebenseindrücke von vergangenen Generationen wie kleine Schnipsel auf unseren Genen verteilt haben, um ab und zu aufzublitzen?