Schwierige Zeiten – gedankliche Fluchten
Mittwoch, 9. März 2022, bei keiner Musik
Die Tage vergehen, ohne dass wir mehr tun können, als der aller notwendigste Alltag verlangt, dazu die permanente Aufmerksamkeit auf die Nachrichtenlage. Freunde bieten uns an, mit ihnen gemeinsam zu fliehen, falls es erforderlich werden sollte. „Wir holen Euch ab, fahren zuerst nach Avignon und dann fliegen wir nach Chile.“ Avignon, Fluchtort der Päpste. Die Freundin hatte in ihrer Kindheit mit der Familie vor der Militärjunta, die Salvador Allende ermordete, aus Chile fliehen müssen. Das war 1973, jetzt eine Flucht dahin zurück? Noch vor einem Monat wäre der bloße Gedanke daran vehement zurückgewiesen worden.
In der Nacht dann hatte der Krieg mein Unterbewusstsein wohl so tief erreicht, dass ich ständig auf der Flucht war. Zuerst quer durch Italien, an all den Orten, an denen ich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebte und den Roman „Calvinos Hotel“ über den Bosnienkrieg und das Stück „Das Geheimnis des Alten Waldes“ schrieb, eine Geschichte über Naturzerstörung und ein Kind, das sich dagegen auflehnt. Viele Jahre bevor auch nur ein einziges reales Kind daran dachte, Freitags nicht zur Schule zu gehen. Seltsamerweise wusste ich im Traum immer, dass inzwischen Jahrzehnte vergangen waren und die Orte, die ich aufsuchte, sich verändert hatten. Später war ich in den überfüllten Straßen von Kalkutta, zwischen Elends-Szenerien größten Ausmaßes – zerlumpte Eltern schleppten verkrüppelte Kinder auf dem Rücken durch die Massen – sodass ich nur noch weg wollte, und nun verlief ich mich natürlich, irrte orientierungslos umher und konnte nur durch Aufwachen entkommen.
Die Liebste kam am gestrigen Abend mit dem Vorschlag, einen Schutzraum im Keller einzurichten. Wir haben einen Raum, der keine Außenwände hat; der wohl bestens geschützte Ort im Haus. Vorräte für 14 Tage sollten möglich sein, danach dürfe man wieder in die Außenwelt, so das Schlimmste eingetreten sei. Ich sagte, das sei eine gute Idee, was es wohl auch ist, die beste zumindest, da abzusehen ist, dass sie das Haus nicht verlassen wird. Man muss sehr aufpassen, worüber man spricht.
Und schon gar nicht darf man im Gespräch mit Anderen naiv davon ausgehen, dass man über den Konflikt einer Meinung sei. Ein Anruf vorhin hat mir das mal wieder mehr als deutlich gemacht: Die Verwandte, mit der ich sprach, sagte doch allen Ernstes, für sie seien die USA die größten Kriegstreiber. Warum? In allen ukrainischen Unternehmen säßen Amerikaner in der Führungsspitze, meist sogar Söhne von ehemaligen Präsidenten. Die wüssten schon, wer von diesem Krieg profitiere. Als ich andeutungsweise zu protestieren wagte, sagte sie, ich solle mal darauf achten, wie gut die kleinen Kinder unter den Flüchtlingen Englisch sprächen. Die seien alle vorbereitet. Und Deutschland profitiere auch von diesen Flüchtlingen, denn wir könnten pro Jahr 300.000 Arbeitsstellen nicht besetzen. Da kämen uns diese gut ausgebildeten Flüchtlinge gerade recht. Die würden sich schnell einleben und gingen auch nicht zurück.
Sie werden zugeben, das sind Konstrukte, die man nicht leicht bekämpfen kann. Und ich werde immer etwas müde, wenn ich mit so was konfrontiert werde. Ich bin wohl einfach zu alt, um mich immer wieder neu mit solchen wirren Ansichten beschäftigen zu können.
Meine Tochter schrieb: „F. und mich beschäftigt die Weltlage in diesen Tagen daher auch sehr, nicht zuletzt weil uns natürlich das Aufwachsen mit und nach Tschernobyl geprägt hat. Bin ich genau eine Woche vor der Katastrophe geboren, hat F. genau eine Woche danach das Licht der Welt erblickt. Und die Gefahr, die die Atomkraft mit sich bringt, war für uns daher immer sehr real.
Es bleibt wohl wirklich nur das Hoffen, dass Putin irgendwo ein Weg zurück angeboten werden kann, den er ohne großen Gesichtsverlust gehen kann. Ansonsten erscheint es mir fast unmöglich, dass er sein Bestreben einstellt.“
Ja, das denke ich auch.
Hoffen wir mit ihr das Beste für alle
und bleiben Sie glücklich, nach Möglichkeit
Ihr PHG