In welchem Jahrhundert erzählen wir eigentlich?
Montag, 19. Oktober 2020, bei Mahlers Sinfonie Nr. 5, (Tod in Venedig)
Warum schreibt oder malt man, wenn nicht, um im künstlerischen Akt erstmals etwas sichtbar zu machen. Das Ziel muss immer sein, etwas zu malen, zu schreiben, was vorher nicht gesehen worden ist, nicht gesehen, nicht wahrgenommen werden konnte.
Aber das ist schwer, denn nicht nur ist man auch als kreativer Mensch zutiefst im Alltäglichen verhaftet und muss deshalb das immer schon Gewusste, das immer schon Gesehene erst abwerfen und hinter sich lassen, bevor man wirklich beginnen kann. Und ob es dann gelingen wird, das bleibt natürlich immer noch zweifelhaft.
Außerdem wird man, wenn es tatsächlich gelingt, dafür niemals belohnt. Im Gegenteil, belohnt wird man vielmehr für die Wiederholung des Altbekannten, das ein Wiedererkennen erlaubt, während das noch nie Gesehene lediglich verunsichert und zur Ablehnung führt. Das war übrigens auch nach der Uraufführung von Mahlers 5. Sinfonie nicht anders. Der Komponist beklagte sich 1905 nach einer erfolglosen Aufführung in Hamburg: „Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand capiert sie.“ Heute ist sie längst eine seiner beliebtesten Musiken.
Dabei wäre es ja noch zu entschuldigen, wenn die heutigen Autoren halt nur nichts Neues mehr wagen. Aber es ist viel schlimmer, denn die Literatur, die heute erfolgreich ist, die ist mindestens 100 Jahre hinter den Entwicklungen der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts zurück und benutzt schamlos (in vielen Fällen wohl auch nur naiv) die Erzählformen des 19. Jahrhunderts. Ganz zu schweigen von den Schreibweisen, die nach dem 2. Weltkrieg entwickelt worden sind, von denen weiß gar niemand mehr, dass sie jemals existiert haben.
Und das gilt nicht nur für Deutschland, wo nur noch einige abseitige Spezialisten zu wissen scheinen, dass es z.B. so gewaltige Autoren wie Arno Schmidt gegeben hat. Dessen Roman „Schwarze Spiegel“ ich gerade in einer ReLektüre genossen habe. Ja, wirklich genossen, denn so schön böse, intelligent und witzig bzw. ironisch-bissig hat nie wieder jemand geschrieben.
Es gilt ebenso für die ganze angelsächsische Literatur. Vielleicht mit Ausnahme von David Foster Wallace, der sich freilich letzthin selbst weggeschafft hat.
Ein kleiner Essay über den Verlust der avancierten Erzählformen, die seit der klassischen europäischen Moderne entwickelt wurden, wäre da lohnend, um wenigstens diesen Verlust selbst genauer zu verzeichnen. Will sehen, ob ich das auf dieser Seite demnächst in lockerer Folge leisten kann.
Bis dahin, bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG