Literatur

Schwieriger Tag – schwierige Bücher – leichte Musik

Mittwoch, 9. September 2020, ein Jazz-Tag

Obwohl der Tag vor Schönheit leuchtet – das Blau des Himmels, das im leichten Wind flüsternde Grün des Gartens, die unaufdringlich schmeichelnde Sonne vor meinem Arbeitszimmerfenster -, ist es ein schwieriger Tag für mich. Vielleicht, weil es der Geburtstag meiner Mutter ist, die ich 2015 beim Sterben, fast hätte ich geschrieben ‚in den Tod‘, begleitet habe; fürchterlich, dass es schon so lange her ist; und all die Steine, die seither auf dem Weg lagen; all die Verluste, die seither zu ertragen sind. Schon beim Aufstehen, kaum auf dem Bettrand sitzend, musste ich weinen, obwohl ich doch, zumindest bewusst, an gar nichts gedacht habe, was dafür Anlaß hätte sein können.

Die Webseite meines LOGBUCHES ist defekt, sodass ich heute viel daran arbeiten müsste; gestern war ich vom frühen Nachmittag bis kurz vor Mitternacht damit befasst. Heute fehlt mir die Energie für die Fortsetzung, wohl auch das Auffassungsvermögen, um die gestörten Funktionen meines Content-Managment-Sytems zu entdecken bzw. zu begreifen. Also werde ich es vorerst lassen und, ja was, machen. Musik hören, Lesen.

Seit dem Morgen ist bei mir ein reiner Jazz-Tag angesagt. Begonnen habe ich mit der Platte „Strange Fruit“ von Billie Holiday.

Seither folgten Lee Konitz und Brad Mehldau mit den „Songs“. Nun Charlie Hadens „Montreal Tapes„. Davon gibt es ja mehrere. Mal sehen, was danach kommt. Vielleicht doch Shostakovich mit seinen „24 Preludes & Fugen“ von Melnikov gespielt, das wäre ein Übergang zur Klassik der Moderne, der nach dem Jazz gelingen könnte.

Direkt nach dem Frühstück habe ich zuerst meine Fingerübungen für die rechte Hand gemacht, Ergebnis nicht allzu schlecht. Danach für ein halbes Stündchen die Lektüre in der „Recherche“ weitergeführt. Ich bin da leider noch überhaupt nicht so weit wie ich sein wollte; aber egal, Prousts Erzähltempo ist mehr als gemächlich. In meiner Ausgabe bin ich inzwischen um die Seite 259-266 angekommen. Das sind die Passagen, nachdem er erstmal die Herzogin von Guermantes in der Kirche von Combray erblickt hat, bis zu der Beschreibung der Kirchtürme von Martinville. Darin eingebettet die Klage darüber, dass er niemals Schriftsteller werden können:

„Wieviel betrübender noch als zuvor schien es mir seit jenem Tag auf meinen Spaziergängen in die Gegend von Guermantes, daß ich keine Begabung fürs Schreiben besaß und darauf verzichten mußte, je ein berühmter Schriftsteller zu werden. Das Bedauern, das ich darüber empfand, während ich allein und abseits träumte, machte mich so niedergeschlagen, daß mein Geist, damit ich es weniger fühlte, von sich aus in einer Art von Zurückweichen vor dem Schmerz ganz und gar vermied, bei dem Gedanken an Verse, Romane oder an eine Dichterzukunft zu verweilen, mit denen ich offensichtlich aus Mangel an Talent nicht würde rechnen können.“

Tatsächlich findet er kurze Zeit danach zu seinem ersten gelungenen Text, und zwar deshalb, weil er, statt sich weiter mit allgemeinen Ideen und großen Themen zu befassen, über die, wie er meint, zu schreiben sei, sich den realen Dingen zuwendet.

Was für eine, in meinen Augen, ergreifende Passage, bei der ich mit Bedauern daran denken muss, wie sehr sich die Leser selbst vom Besten ausschließen, was es in der großartigen Literatur der Moderne des 20. Jahrhunderts gibt. Also etwa von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, James Joyce „Ulysses„, Hermann Brochs „Der Tod des Vergil„, Musils „Der Mann ohne Eigenschaften„, José Lezama Limas „Paradiso“, bis in dessen Arbeitszimmer in Havanna ich gepilgert bin. Vergleichbares gibt es in unserem 21. Jahrhundert nicht, außer vielleicht Alban Nikolai Herbst mit seiner Anderswelt Trilogie, aber den rechne ich noch dem 20. Jahrhundert zu. Wäre die Literatur des 20. Jahrhunderts eine große Flasche Champagner, dann hätte Herbst mit „Thetis„, „Buenos Aires“ und „Argo„, den drei Anderswelt-Romanen, den Korken auf diese Flasche gemacht. Sie wissen, so ein Korken muss sehr stark sein, um den enormen Druck einer Champagernerflasche auszuhalten, im Falle des Herbstschen Anderswelt-Korkens dem literarischen Druck eines ganzen Jahrhunderts. Seither schweigt die Literatur. Naja, hoffen wir, dass meine Kenntnis lückenhaft ist.

Aber, der Punkt, um den es mir geht, ist, dass das alles als zu schwierig gilt, es sind den Lesern zu dicke unleserliche Bücher. Dabei ist das alles Quatsch. Ich könnte ihnen einige wirklich schwierige Bücher nennen, die zudem ziemlich dünn sind. Etwa Francis Ponge mit „Im Namen der Dinge“ oder meinen verehrten Edmond Jabès mit „Das Buch der Fragen“, das ich erfolglos in Krakau suchte. Das sind Bücher, bei denen das Verstehen erst weit hinter den Texten, nachdem man schon jedes einzelne Wort verstanden hat oder verstanden zu haben glaubt, beginnen muss.

Nun egal, wer allenfalls noch irgendwie zum flüchtigen Zeitvertreib liest und nicht mehr, um Erfahrungen zu machen, was 99,9% der Leser ja tun, der wird sich bei diesen Ausführungen eh fragen, wen das juckt.

Genießen Sie den Tag und
bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen Ihr unverbesserlicher PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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