Literatur

Die Tage werden kühler – und mein Rückzug nach Venedig

Dienstag, 1. September 2020, bei Domènec Terradellas „Artaserse“ unter Juan Bautista Otero und der Royal Chamber Opera Company

Wir haben mittlerweile nur noch 19 Grad, doch ist es sonnig in Venedig, was zu der traumhaft heiteren Musik Terradellas passt, die ich nicht erst seit dem Morgen sondern bereits seit gestern immer wieder höre. Es passt auch deshalb, weil dieses Dramma per musica in tre atti, mit einem Libretto von Metastasio, in Venedig seine Uraufführung erlebt hat, im Teatro San Giovanni Grisostomo, dem Theater der Familie Grimani, im Jahr 1744. Terradellas, der 1713 in Barcelona geboren wurde, starb leider schon mit 38 Jahren am 20. Mai 1751 in Rom – im Jahr nach Bachs Tod.

Domènech Terradellas (1713-1751)

So, für heute Schluss mit der Musikgeschichte. Insgesamt war das Jahr seines Todes eh kein gutes, trotz der ‚Kunst der Fuge‚. In Endingen am Kaiserstuhl wurde noch die Bäuerin Anna Schnidenwind nach vorheriger Erdrosselung öffentlich auf dem Scheiterhaufen als Hexe verbrannt. Sicher unter dem erregten Jubel des Pöbels, mit dem, wie bei uns heute, die Straßen voll waren. Solche Zeiten waren das, wohlgemerkt. Und es hilft auch wenig, dass diese Hexenverbrennung eine der letzten in Europa war. Davor rettet nur die Kunst.

Nun, zumindest mich, wenn mir angesichts der gesellschaftlichen Zustände unserer Tage der Ekel zu sehr auf die Seele drückt. Etwa wenn ich hirnlose Zeitgenossen, für die ich die Bezeichnung ‚Demonstranten‘ nicht gelten lasse, grölend die Reichskriegsflagge vor dem Bundestag schwenken sehe. Das ist Pöbel, der von Nazi-Politikern gesteuert wird.

Ich habe mich auch aus diesem Grund gegenwärtig wieder in die Stadt des Wassers, der Brücken und der Masken zurückgezogen. Vielleicht sollte ich in meinen wenigen letzten Jahren dort auch bleiben. Ein alter Mann, seine Schriften ordnend, in einer untergehenden Stadt. Nach der Arbeit des Tages vado un giro und auf den canale schauen.

Egal, ich habe meine Verbeugung vor dieser Stadt mit meinem Roman „Calvinos Hotel“ gemacht. Das muss reichen. Andere Bücher stehen gegenwärtig im Vordergrund. Und ich bekomme da auch schöne Rückmeldungen. Zum Beispiel zu „Isoldes Liebhaber“. Gestern etwa diese Mail:

Lieber Herr Gogolin, ewig her, seit wir uns das letzte Mal bei einer Präsentation des Kulturmaschinen Verlags hier in Berlin getroffen haben! Bestimmt zehn Jahre, wenn nicht mehr! Mit Ihrem neuen Erzählband „Isoldes Liebhaber“ haben Sie mir ein intensives Wochenende beschert! „Der Mensch ist nun mal das Geschichten erzählende Tier“ – und wenn er keine zu erfinden vermag, dann ist er das Geschichten lesende Tier. Und das bin ich nach wie vor sehr gerne.  Wie aktuell Ihre Worte: „Die echten Menschen, die mit ihren Händen die Welt in Gang halten, und auch  noch existieren werden, wenn die ganze digitale Simulation der Wirklichkeit zusammenbricht, was unweigerlich geschehen muss, kommen im Bewusstsein nicht mehr vor. Wir leben längst (….) unter Replikanten, während reales Leben ein Auslaufmodell ist.“ Dass Sie u. a. auch die Story-Geschichte mit dem Antiquar, der sich mit dem Kauf einer Bibliothek ein großes Problem einhandelt, aufgenommen haben, hat mich besonders gefreut. Ich habe sie mit großen Vergnügen (wieder) gelesen und mich an schöne, aber auch recht anstrengende Zeiten erinnert. Ihnen – herzlichen Dank für diese Neuerscheinung! Das Buch hatte ich mir noch am selben Tag bestellt – und dann zügig gelesen.  Herzlich grüßt Ihr Fan I.

Das erwähnte Verlagstreffen in Berlin ist erst 9 Jahre her, denn damals erschien erstmals „Calvinos Hotel“, und das war 2011. Inzwischen hat der Roman sogar eine wunderbare Neuauflage erfahren, Hardcover mit Lesebändchen und einen tollen Umschlag von der genialen Zazie.

Dass der in der Mail als so „aktuell“ zitierte Text nicht von mir ist, sondern zu einem Spiel mit Identitäten in einer der Geschichten des Buches gehört, und natürlich darüber hinaus wie immer zu der Rolle der Figur im Text, was auch heißt, dass der gelobte Autor eine ganz andere Meinung haben kann, muss ich hier der Korrektheit halber anfügen.

Aber auch zu anderen Büchern kommen erstaunlich ausführliche Rückmeldung, so zu „Herz des Hais“.

Lieber Peter, gerade habe ich die letzten Seiten Ihres Buches gelesen und möchte Ihnen gern meine Gedanken schreiben. Verzeihen Sie mir bitte, ich drücke es jetzt ganz einfach so aus, wie ich es empfinde, ohne jeden journalistischen Hintergrund. Ich habe auch vorher keine Rezension gelesen und mich einfach überraschen lassen. Ich hoffe, es wird jetzt nicht zu lang: Noch auf der letzten Seite fühle ich einen Schauer, löst sich doch am Ende ein Geheimnis, das schwer und dunkel über der gesamten Erzählung schwebt, beeindruckend düster durch das Kinderlied in Szene gesetzt. Die Suche der beiden Schwestern nach dem eigenen Ich, nach Erklärungen und Lösungen, der Versuch, einen Platz im Leben zu halten oder neu zu finden, sehe ich aber als das eigentliche Thema. Und das haben Sie ganz wunderbar facettenreich und überlegt beschrieben. Vielleicht liegt es daran, dass ich ähnlich unstet bin wie diese Karen, noch dazu im nahezu gleichen Alter, in dem man versucht, Gedanken und Lebensräume neu zu ordnen… Oder liegt es an der eindringlichen Art, mit der Sie die Angst, Hoffnung, Lust der Frauen schildern? Wie dem auch sei, war ich schnell gefangen in deren Gefühlen und Ungewissheiten. Obwohl anfangs gar nicht viel geschieht, die Beschreibung der Gefühlswelten im Vordergrund steht, so haben Sie es doch erreicht, eine Spannung aufzubauen, die mich weiter lesen ließ. Genau so muss es sein! Ergreifend, wie Sie diese besondere Verbundenheit und tiefe Liebe zwischen Karen und Eric schildern. Dass es so etwas gibt, also eine andere Art der Zuneigung zu jemandem, anders als das, was Usus ist, da bin ich völlig bei Ihnen. Dass man überall sein möchte, wo der Seelenzwilling ist und es keinen Grund mehr gibt, irgendwohin zu gehen, wenn es ihn nicht mehr gibt. Die große Liebe. Sie haben mich mit Ihren Schilderungen über Karens Sehnsüchte und deren Drang, diese zu erfüllen, überrascht. Die Handlung ist unvorhersehbar, was mir beim Lesen sehr wichtig ist. Sonst fühlt sich ein Roman eher wie ein Kochbuch an, bei dem ich ja auch das Ergebnis kenne und mir noch den Weg dahin erklären lasse. Und da ich Kochbücher selten abends im Bett lese, war ich über Ihren spannenden, gegen Ende fast mystisch knisternden Roman sehr erfreut. Lieber Peter, ich bin schon gespannt auf den nächsten Teil. Vielen Dank für diese bewegenden Stunden auf Lodyne. Herzlichste Grüße, Ihre Andrea
P.S. Und noch etwas sehe ich wie Sie: ein gutes Risotto braucht Zeit… und einen guten Weißwein……… ;0)

Darüber habe ich mich natürlich gefreut, zumal ich aus der Vergangenheit recht genau weiß, dass mir oft gerade die Darstellung sexueller Szenen vorgeworfen worden ist. Da kann man schon froh sein, wenn die Leute einen einfach anschweigen, weil das Thema Sexualität ihnen die Sprache verschlägt. Den meisten Lesern ist Sex peinlich. Wie dumm.

Ergänzend will ich nur noch anfügen, dass es sich beim „nächsten Teil“, von dem oben die Rede ist, um den Roman „Nichts weißt du, mein Bruder, von der Nacht“ handelt, dessen fertiges Manuskript am 14. September Ablieferungstermin im Verlag hat. Dann sind die ersten beiden Bände meiner Familientrilogie „Aus Lügen gemacht“ demnächst auf dem Buchmarkt. Nach der Geschichte zweier Schwestern in „Herz des Hais“ ist es diesmal, wie passend, die eine Geschichte, die zwei Brüder unter sich austragen müssen. Aber natürlich spielt eine Frau eine mehr als wichtige Rolle. Und gekocht wird in dem Buch selbstverständlich ebenfalls wieder.

Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG

PS: Ja, Familien sind aus Lügen gemacht. Wie ein Tisch aus Holz. Aber das wissen Sie sicher längst.

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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