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Es gibt keine Hexen

Montag, 13. August 2018, bei Monteverdis „L’Incoronazione di Poppea“ unter René Jacobs

Ein Arbeitsort aus ferner Zeit

Gedämpfter Tag. Kurz vor sieben Uhr vom Gewitter geweckt worden, nach anfänglichen Sturzbächen regnet es seither verhalten, was bei geöffneten Fenstern und Türen eine angenehme akustische Kulisse entstehen lässt, die mich an die sommerlichen Regentage auf Eiderstedt erinnert. Ich hatte mir damals ein Feriensemester genommen, um meinen ersten Roman zu schreiben. Um den Schrapenbüller Hof, auf dem ich allein lebte, gab es nur einen breiten rückwärtigen Garten, der durch Bäume abgeschirmt war, und zu allen Seiten die sich schier endlos ausdehnenden Felder und Weiden, auf denen nur hin und wieder mal eine Schafherde auftauchte.
Dort lernte mein erster Sohn, der am kommenden Wochenende 44 Jahre alt wird, auf einem wackeligen Dreirad das Radfahren. Seltsam, an was man sich erinnert?

Der Hof 'Schrapenbüll' nahe Tönning an der Eider, wo ich Ende der 80er Jahre meinen ersten Roman "Seelenlähmung" schrieb.
‚Schrapenbüll‘ nahe Tönning an der Eider,

Ich habe mal mit Google Earth nachgeschaut, den Hof gibt es noch. Aber die umgebenden Bäume scheinen dichter geworden zu sein.

Für das Kind, das ich war

Nun, vielleicht ist eine solche Erinnerung auch gar nicht so seltsam, denn im Roman „Seelenlähmung“, den ich damals auf Schrapenbüll schrieb, ging es um das Thema Kindheit. Und die Kindheit ist auch das Thema meines neuen Romans „Der Junge hinter der Tür“. Ich befindet mich also wieder auf dem Weg in dieses stets so nahe und so ferne Land, das die Kindheit ist. Meine bisherige Widmung (meist widme ich ja meine Bücher einer Person, die es aus irgendeinem Grund verdient hat) lautet sogar „Für das Kind, das ich war“. Aber das werde ich vermutlich wieder streichen. Es könnte zu falschen Vorstellungen Anlass geben, vor allem bei Menschen, die das Wesen der Fiktion nicht begreifen. Ich bin halt nur die Person, die die Geschichte aufschreibt.

Ich will aus dem neuen Roman mal den Anfang hierher setzen. Bisher nenne ich das den Prolog, aber auch das wird möglicherweise noch geändert. Also:

Prolog
Da, weit oben, in der Dunkelheit, bewegte sich etwas und hielt ihre Beine fest. Gib die Füßchen her! Umfasste die Knöchel, zog sie mit einem Ruck zum Bettende, sprang dann herunter und hockte sich auf ihre Knie. Sie begann zu schreien, doch ihr Mund öffnete sich nicht, sodass sie den Schrei nur im eigenen Kopf hören konnte, Schreien, wirres Gelächter, Schluchzen und kaltes Kreischen, als glitten kratzende Fingernägel über eine Schiefertafel. Sie konnte nicht mehr atmen. Ihr Atem, die Luft war fort. Eine Hexe, dachte sie, Hexe, Hexe, eine Hexe reitet auf mir, sitzt auf meinen Beinen und reitet auf mir. Auf und ab, Hexe, auf und ab, Hexe, Hexe, auf und ab, eine Hexe, auf und ab, auf …

Später in der Nacht erwachte sie. Links von ihr blitzte es mit einem flachen Knall, ein flackernder Schein zerriss die Dunkelheit, ließ die Frisierkommode, die Musiker und die tanzenden Frauen auf der Tapete in den Raum treten und wieder verschwinden, als tauchten der Saxophonspieler und die Noten über seinem Kopf in tiefes, schwarzes Wasser.
Sie lag auf dem Rücken, wartete, versuchte ganz flach und tonlos zu atmen, wusste nicht, worauf sie wartete und wagte endlich langsam den Kopf nach links zu drehen, dorthin, wo sie das Fenster vermutete. Wieder blitzte es, und der Knall hallte zwischen den Häuser nach, als springe er entlang der Mauern hin und her. Jetzt wusste sie wieder, wo sie sich befand, erkannte den Rahmen des Fensters, als der Schein des Blitzes erlosch, und sah auch den Vater, sein Profil auf dem hohen Kopfkissen. Er rauchte, das rote Glimmen der Glut wanderte vor dem helleren Rechteck des Fenster hin und her, auf und ab, von der Brust, auf der er die Hand mit der Zigarette ablegte, zum Mund, glühte auf, wurde wieder schwächer, auf und ab, verschwand kurz, und sie wusste, dass er in der Dunkelheit die Zigarettenasche am Rand des Aschenbechers abstreifte, der neben seiner linken Schulter auf dem Nachttisch stand. Der Anblick beruhigte sie.

Kurz bevor sie wieder einschlief, blitzte es erneut, das scharfe flackernde Licht, das das Zimmer für Sekunden aus der Dunkelheit riss und vor den Augen wandernde Schattenbilder hinterließ, machte ihr Angst.
»Was ist das?«
Er hustete. »Das ist ein Trockengewitter. Schlaf weiter.«
»Da war eine Hexe«, sagte sie.
»Was?«
»Eine Hexe, auf meinen Beinen.«
»Es gibt keine Hexen«, sagte er, »du hast geträumt. Schlaf einfach weiter. Das Gewitter verschwindet schon. Hörst du, es regnet gar nicht.«

The Family and the Fishing Net

Ich sehe bzw. lese es erst jetzt. Also hat wohl das heutige Gewitter auch die Erinnerung an den neuen Romananfang, den ich schon im Frühjahr schrieb, geweckt, nicht nur die an die lang schon vergangene Arbeit auf Schrapenbüll. Wenn das Gehirn sein Netz der Analogien auswirft, bleibt so mancher Fisch, ob klein oder groß, darin hängen. Nun, das soll so sein.

Es geht schon auf elf. Ich will hier für heute mal schließen, um noch vor dem Mittag am Roman selbst etwas zu arbeiten. Vor allem das gesammelte Material aus all den Notizbüchern müsste in die Datenbank von Scrivener, meinem inzwischen bevorzugten Schreibprogramm, überführt werden, damit ich es während der Niederschrift direkt zur Verfügung habe.

Es ist ja ganz erstaunlich, was für Entdeckungen man macht, wenn man konsequent Notizbücher führt. Man entdeckt dort nach Jahren Aufzeichnungen, die wie eben erst für das augenblickliche Schreibprojekt notiert wirken, absolut passende Textstellen, die man ohne Änderungen übernehmen kann. Und wenn man nachschaut, dann stellt man fest, dass die betreffende Notiz sieben, acht Jahre alt ist. Das finde ich ganz wunderbar. Arno Schmidt hat aus diesem Grund seine Notizen für ein Buch in lauter Zettelkästen gesammelt, die er thematisch etc. sortiert hatte und dann, wenn es an die Niederschrift ging, im Prinzip nur noch abschreiben musste.

So weit will ich nicht gehen, denn ich bevorzuge den Wildwuchs meiner Notizbücher. Und in gewisser Weise will ich der einen oder anderen meiner gesammelten Aufzeichnungen auch die Chance einräumen, dass sie mir entkommt. Effektivität sollte nie an erster Stelle stehen. Lassen wir dem Arbeitsprozess sein Geheimnis. Und die eigene Arbeitsweise ist ja auch dafür da, den Autor glücklich zu machen.

Aber glücklich sollten, wie immer, auch Sie bleiben
wünscht Ihnen Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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