Lektüretipps,  Literatur

Mainstream oder Idioten im Elfenbeinturm

Liebe Frau B.,

besten Dank für Ihre ausführlichen Kommentare. Nun kenne ich das natürlich alles endlos, denn Sie wiederholen lediglich die allgemein verbreitete Auffassung, nach der mit der Literatur letztlich alles in Ordnung ist, wenn man mal von den paar eingebildeten Idioten absieht, die unverständlichen Kram schreiben, das für Kunst und sich selbst für die besseren Autoren halten.

Elfenbeinturm
Tatsächlich ist das eine Ansicht, die Ursache und Wirkung (bewusst?) verdreht und damit ausgerechnet die Autoren verhöhnt, die eigentlich Opfer der Globalisierung auf dem Massenmarkt Buch sind. Denn natürlich gibt es diese elitären Autoren, die sich für die besseren Künstler halten in dieser Form gar nicht. Jeder Autor will im Prinzip nichts anderes, als seine Geschichten erzählen, die Themen, die er für wichtig hält bearbeiten, dabei seine Arbeit gut machen und selbstverständlich damit auch Leser erreichen.

Aber klar doch! Und kein einziger Autor, den ich kenne – und ich kenne wahrhaftig sehr viele -, hockt in seinem Elfenbeintürmchen und grummelt vor sich hin, dass er gerade die große Kunst produziert, die die böse Welt nicht zu erkennen vermag. Autoren so zu betrachten, das ist schlicht großer Quatsch. Aber selbst wenn dem so wäre, dann brauchten wir uns darüber doch gar nicht zu unterhalten, denn diese paar marginalisierten Kunsthandwerker, die stören doch keinen.

Aber nein, so ist es nicht. Die Situation, über die zumindest ich spreche, die entsteht durch einen Literaturmarkt, der alles ausgrenzt, was nicht GENRE Literatur ist. Der Markt ist überschwemmt mit Genreliteratur, ob es nun der 385tausendste Regionalkrimi ist, der soundsovielte Erotikthriller, der in ewigen Abwandlungen neu aufgelegte Vampirroman oder sonstwas.

Auch Literatur, die sich früher selbst niemals als Genre eingeordnet hätte, muss sich heute fragen „in welches Genre könnte ich denn passen?“ Und wenn man dann wie Sie, liebe Frau B., glücklicherweise einen Krimi geschrieben hat, auf den der Verlag das Etikett „Thriller“ kleben kann, dann sind Sie dabei. Alle anderen Autoren stehen aber vor der Tür und bleiben da auch in der Regel.

Außer ständig wechselnder Genreliteratur verkauft sich auf dem deutschen Buchmarkt nichts mehr, abgesehen von ein paar Autoren, die aber ebenfalls im Verschwinden begriffen sind, deren Bücher noch über ihren lange schon bekannten Namen vermarktet werden können. Alle übrigen müssen sich in etwa das anhören, was eine Frankfurter Agentin auf einem Seminar kürzlich mal so ausdrückte. „Ach, Sie schreiben kein Genre. Na, tut mir leid, dann kann ich nichts für Sie tun. Davon verstehe ich nichts. Und verkaufen kann ich das auch nicht. Außerdem müssten Sie dann schon verdammt gut sein. Also, da müssen Sie sehen, wie Sie selbst klar kommen.“
Agenten, Verlage und Lektoren sind inzwischen nicht nur nicht mehr Willens sondern gar nicht in der Lage, eine Literatur zu beurteilen, die sich nicht in die endlosen Reihen der Genreliteratur einreihen lässt.

So werden Außenseiter-Autoren produziert. Die Autoren, die keine Genreliteratur schreiben, sind die Misfits des Marktes. Und keiner von denen hat sich diese Rolle gewünscht oder ausgesucht, ganz im Gegenteil. Und wenn man sie dann noch verhöhnt, indem man ihnen gewissermaßen hinterher ruft, dass sie die Schuld daran selbst tragen, weil sie sich ja angeblich für was Besseres halten und diesen Kunstmist produzieren, den doch sowieso keine Sau lesen kann, dann wird das so übel, dass zumindest ich das Kotzen kriegen könnte.

Mit dieser Entwicklung einher gehen freilich noch andere Dinge, zum Beispiel das fast vollständige Wegbrechen der Produktionsmöglichkeiten für eine Literatur, die nicht Genreliteratur ist. Ein bis zwei neue Regionalkrimis kann jeder einigermaßen fleißige Autor pro Jahr produzieren. Aber was machen Sie mit einem Manuskript, an dem Sie, bedingt durch Umfang, Schwierigkeitsgrad des Stoffes, notwendigem Rechercheaufwand und vielleicht auch seiner Sprachform, sagen wir mal fünf, sechs Jahre arbeiten müssen? Wie finanzieren Sie das? Sie können so etwas gar nicht finanzieren. Und so gibt es eine solche Literatur auch immer weniger.

Aber nehmen wir uns mal einen anderen Gesichtspunkt vor, den ich noch viel verheerender finde. Ich meine die ständig abnehmende Lesekompetenz beim Publikum, die aus dem durchschnittlich niedrigen sprachlichen Niveau der Genreliteratur ebenso resultiert wie aus dem aller anderen Medien, ob es nun um TV oder Hörbuch usw. geht. Wenn Sie heute in einem Studio sitzen und ein Hörbuch einlesen, dann wird der Techniker am Pult die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sobald er merkt, dass Ihre Sätze länger als fünf, sechs Wörter sind. Das versteht niemand mehr, wird er Ihnen sagen. Und es stimmt. Von solchen Fällen wie Ihrem Krimi, bei dem die Leute sich auf amazon bereits darüber beschweren, dass das Buch zu viele Personen enthält und deshalb „verwirrend“ sei, mal ganz zu schweigen.

Natürlich können diese Leser niemals Bücher von Dostojewskij lesen, denn da würden ihnen ja vor lauter Personen, die auch noch mit wechselnden Namen auftreten, die Köpfe platzen. Aber das liest ja schließlich auch niemand mehr. Ich kenne zufällig die Verkaufszahlen der Neuübersetzung, die Swetlana Geier von Dostojewskijs Büchern gemacht hat. Darüber würde sich jeder Autor von Hunsrück-Krimis schieflachen.

Aber das Thema Sprache ist ein wirklich schlimmes Problem. Es gibt zum Beispiel eine starke Tendenz in der deutschen Umgangssprache, sich nur noch im Nominativ auszudrücken, die Leute wissen zum Teil gar nicht mehr, dass es auch andere Fälle gibt und reagieren auf jeden Satz, dessen Konstruktion nicht ihrer reduzierten Sprach- und deshalb auch Denkform entspricht, völlig konsterniert, als spräche man eine fremde Sprache. Oder als sei man eben ein eingebildeter Idiot, der sich für was Besseres hält.

Ich unterrichte seit weit über 30 Jahren Sprache, unterrichte das Handwerk des Schreibens. Über meinen Schreibtisch sind in vielen Jahren regelmäßig mehr als zwanzigtausend Textseiten an Prosa von Schreibschülern gegangen, Jahr für Jahr. Ich weiß, wie die Leute schreiben und denken. Da reicht in vielen Fällen bereits ein Satzbau, der sich hin und wieder auch einen Nebensatz erlaubt, um als unverständlich, weil zu kompliziert, abgelehnt zu werden. Und damit will ich nicht sagen, dass das halt alles Dummköpfe seien. Das sind sie nicht, mal ganz abgesehen davon, dass ich während meines Studiums der Neueren deutschen Literaturwissenschaften durchaus nicht wenige Studenten getroffen habe, die genau dieses Problem hatten und sich aus diesem Grund z.B. über die Lektüre beschwerten, die im Seminar aufgegeben wurde. Meist haben sich diese Leute dann aber nicht hingesetzt und versucht, sich die notwendige Lesekompetenz anzueignen, nein, im Gegenteil, sie haben sich mit der Lektüre von Exzerpten begnügt.

Okay, und jetzt stellen Sie sich mal einen Autor vor, der mit einer gewissen Sprachbeherrschung daherkommt, etwa weil er schon mit der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist. Was soll der denn machen? Soll er Selbstmord begehen, weil der Rest der Welt seine Art mit Sprache umzugehen, inzwischen für einen bekloppten Hirnriss hält? Soll er sich sein Broccasches Sprachzentrum lobotomieren lassen, damit sein Sprachvermögen auf Hauptsätze zusammenschrumpft?

Das geht ja alles nicht. So steht man dann also da, besitzt eine Sprache, die inzwischen naturgemäß zu komplex für einen Gegenwartsleser geworden ist und steht einem Literaturmarkt gegenüber, deren Verwalter seine Literatur gar nicht mehr einzuordnen verstehen und auch nicht willens dazu sind. Dieser Autor, der nichts anderes will, als mit der Sprache, die ihm zur Verfügung steht, seine eigenen Stoffe zu bearbeiten, landet damit zwangsläufig in irgendeiner unbeachteten Nische. Da dürfen Sie ihm dann nachrufen, er sei elitär und bilde sich irgendwas ein. Oder ihn frech fragen, ob er das, was er da macht, eigentlich für Kunst halte? Und warum, bitte schön?

Ganz schweigen will ich hier von Autoren, die der Meinung sind, es sei Aufgabe des Autors literarische Formen auch weiter zu entwickeln. Also etwa neue Formen des Romans auszuprobieren. Eine solche Tätigkeit kommt einem literarischen Selbstmord gleich. Einem wirtschaftlichen sowieso.

Aber selbst dort, in dieser angeblich elitären Nische, landet er nur dann, wenn er unglaublich kämpft, trotz aller Widrigkeiten niemals aufgibt, seine Arbeit, die keiner will, ein Leben hindurch selbst finanziert, an sie glaubt und sich jeden Tag neu sagt, wir geben nicht auf, wir fangen nochmals an.

Die meisten tun und können das nicht, sie geben früher oder später auf. Ich kenne so viele Kollegen, die aufgegeben haben, vor allem, wenn sie ein gewisses Alter erreicht hatten. Ich könnte weinen, wenn ich daran denke. Aber das merkt eh keine Sau, also weg mit ihnen.

Die, die weitermachen, warum machen die das? Weil sie blöd sind? Weil sie an völliger Selbstüberschätzung leiden? Weil sie unfähig sind zu lernen, wie man einen schnellen Krimi schreibt? Weil sie nicht begriffen haben, dass man doch für Millionen schreiben müsse, wie Sie es gestern so flott formuliert haben?

Nein und nochmals nein. Ich kenne durch mein langes Autorenleben so viele großartige Autoren, auf die Sie vermutlich noch niemals auf dem Buchmarkt aufmerksam geworden sind, weil sie da fast gar nicht vorkommen. Und das sind alles sehr demütige, sachkundige Handwerker, ausdauernde Arbeiter, die sich der Verantwortung für ihre Literatur jeden Tag neu stellen und dafür persönlichste Einschränkungen auf sich nehmen, die sich die Leute, wenn sie daran denken, was ein Autor sei, gar nicht vorzustellen vermögen, im bösesten Traum nicht. Vielleicht stimmt es ja sogar, dass viele dieser Autoren keine gängige Genreliteratur zu schreiben vermögen. Aber wer bitte schön, kann sich denn anmaßen, das von ihnen zu fordern? Dafür sind sie nicht auf der Welt!

Oder nehmen Sie ausnahmsweise mal mich. Ich coache seit Jahrzehnten Autoren, viele davon sind im Schnitt zehn Jahre bei mir und schreiben in dieser Zeit ein halbes Dutzend Bücher oder mehr. Da sind Autoren dabei, deren Bücher in zehn  Sprachen übersetzt wurden. Da gibt es Gewinner des deutschen Krimipreises, andere, die inzwischen selbst Lektoren geworden sind, drei konnten sich über miese Verfilmungen ihrer Bücher ärgern etc. Ich habe in meinem Leben so viele Krimiautoren auf den Markt begleitet, bei vielen vom ersten Buch an und habe ihnen dann im Rahmen einer jahrelangen Karriereplanung gewissermaßen ein Autorenleben aufgebaut.

Glauben Sie nicht, dass ich wüsste, wie man erfolgreiche Krimis schreibt? Ich weiß das sehr genau. Aber ich schreibe keine. Ich habe niemals die Absicht gehabt und werde sie niemals haben, selbst dann nicht, wenn morgen ein Gesetz erlassen würde, dass nur noch Krimis veröffentlicht werden dürfen.

So ist das nun mal. Und der Witz ist, dass das Phänomen Mainstream, um das es hier geht, natürlich nur in einem winzigen Ausschnitt betrachtet wird, wenn wir hier vom deutschen Buchmarkt sprechen. Es gilt ersten selbstverständlich international, dann aber vor allem auch viel, viel stärker noch für die Musik und für den Film und das Fernsehen. Wenn wir anfangen wollten, über diese Gebiete der Massenkultur zu reden, dann würden wir sehr schnell feststellen, dass Literatur an sich ein Nischenprodukt ist. Aber dazu hier vielleicht nur ein kleiner Lektürehinweis (1). Es ist letztlich nicht mein Gebiet.

Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg. Ach nein, das ist Quatsch. Erfolg ist Quatsch. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Freude an dem haben sollen, was Sie tun. Und wenn es das Schreiben von Krimis ist, dann eben Freude am Schreiben von Krimis. Diese Freude am eigenen Tun ist das einzige, was Ihnen in den unberechenbaren Wechselfällen des Lebens bleiben wird.

Deshalb wünsche ich es Ihnen von Herzen.
Ihr
Peter H. Gogolin

(1) Frédéric Martel: Mainstream – Wie funktioniert, was allen gefällt, Knaus, München

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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