Marthes schöner Hals und die Krümmung der Erde
Wiesbaden, Samstag, 05. August 2017, bei Klaviermusike von Bach, Scarlatti, Vivaldi, Galuppi und Tomeoni, entstanden unter den magisch mystischen Händen von Arturo Benedetti Michelangeli
Ich putze gerne die Küche. Nicht nur, weil ich ja schließlich auch darin koche und mir das desto mehr Spaß macht, je besser der Zustand der Küche ist. Vor allem auch, weil das ein sehr meditativer Vorgang ist. Der Geist kann dabei frei wandern.Die Spüle mal wieder zum Blinken bringen, mit Essigessenz den Eier- und den Wasserkocher von Kalk befreien, Koch- und Arbeitsflächen reinigen, Müll … naja, und immer so weiter. Dabei spielte Michelangeli für mich, und ich konnte seinem Spiel die Zufriedenheit mit meiner Arbeit anhören.
Verschiedene Gedanken bzw. Bilder gingen mir während dieser Beschäftigung durch den Kopf. Zum einen das Sternbild des Orion – Sie wissen schon, das ist das Sternbild, das in der ägyptischen Mythologie mit dem Totengott Osiris gleichgesetzt wird.
In meiner Küchenputz-Phantasie befindet sich das Abbild des Orion in Form kleiner Leberflecken bzw. Muttermale links hinten auf dem weißen Hals der verführerischen Marthe, der weiblichen Hauptfigur in meiner Novelle „Er kommt erst am Abend zurück“, an der ich seit meiner Rückkehr aus dem Urlaub in der ersten Julihälfte schreibe.
Für den männlichen Erzähler Nyborg ist Marthes Muttermal aus zwei Gründen interessant. Erstens weil er plötzlich begreift, dass er es bisher nicht gesehen hat, obwohl er schon zwei Wochen mit ihr auf recht engem Raum zusammen arbeitet, auf einem Schiff nämlich. Und zweitens, weil er mehrfach gesehen hat, dass Hamilton, sein Chef und (in seinen Augen) Nebenbuhler, Marthe dort auf den Hals geküsst, wenn nicht gar in den Hals gebissen hat. Kurz, Nyborg begreift, dass er immer nur Hamiltons sexuell eindeutigen Küsse wahrgenommen hat, auf ihn deshalb eifersüchtig war usw. Das Muttermal in Form des Orion nimmt er erst wahr, als Hamilton nach zwei Wochen fort ist. Das ist also in etwa der erzählerische Hintergrund des Sternbildes, das mir während meiner Putzaktion in der Küche vor das innere Auge trat. Gut, dachte ich, das musst du dann im nächsten Kapitel noch einarbeiten.
Das zweite Bild, bzw. der zweite gedankliche Zusammenhang, der mir putzend durchs Hirn spukte, war die Erdkrümmung, ja, wirklich. Letztlich stammte dieses Bild ebenfalls aus dem Juli-Urlaub – der dann auch das Thema der Novelle verursacht hatte -, denn ich hatte zusammen mit meiner Liebsten auf der Steilküste einer Insel gestanden, von wo wir so weit aufs Meer hinaus schauen konnten, dass sich die Erdkrümmung bemerkbar machte. Das war zwar von mir bemerkt, doch gedanklich nicht weiter verfolgt worden. Heute erst, während ich putzte, begriff ich, wie erstaunlich das war – für die Geschichte der menschlichen Kognition und der Wissenschaften nämlich.
Wie lange hatte die Menschheit geglaubt, dass die Erde eine Scheibe sei? Dabei hätte zumindest jeder am Meer lebende Mensch aus eigener Erfahrung erkennen können, dass dem nicht so sein konnte. Ganz davon abgesehen, dass die Griechen schon 600 vor Chr. von der Kugelgestalt der Erde ausgegangen waren. Selbst kirchliche Denkverbote konnten doch unmöglich über Jahrhunderte die Erfahrung des eigenen Auges verdrängen.
Und dann begriff ich es: Unsere Vorfahren hatten es gar nicht gesehen! Sie hatten es, obwohl es zu sehen gewesen wäre, nicht gesehen. Ihre Kognition, ihre Wahrnehmung war blockiert. So wie ein Mitglied eines Amazonas-Stammes, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals ein Flugzeug am Himmel sah, selbstverständlich kein Flugzeug sondern irgendwas Unverständliches und im besten Falle einen unbekannten Vogel sah, so hatte auch in diesem Falle eine kognitive Blockade die eigene Wahrnehmung bestimmt.
Und dann, während mir der Wasserkocher sprudelnd überlief, wurde mir klar, was die Erdkrümmung mit dem schönen Hals von Marthe zu tun hatte. Auch die Wahrnehmung meines Erzählers Nyborg war einer kognitiven Blockade zum Opfer gefallen. Und konnte es vielleicht sein, dass unsere gesamte Kognition von solchen Blockaden strukturiert wird? Dass wir quasi ständig durch systembedingte Blockaden vor Wahrnehmungen geschützt werden, die uns nur stören, überfordern und im schlimmsten Falle gar handlungsunfähig machen würden? Dass wir in unserem Alltag nur deshalb in der gewohnten Weise zurechtkommen, weil wir durch ein System kognitiver Blockaden daran gehindert werden, die zu große Komplexität der Welt wahrzunehmen. Abbau von Komplexität als vermutlich wichtigste Aufgabe unseres kognitiven Apparates.
Und wenn man andersherum denkt, also nicht von den Impressionen her, die das wahrnehmende Subjekt durch die ihn umgebende Welt erfährt, sondern ausgehend vom handelnden und zum Beispiel durch Sprache mit der Welt in Austausch tretenden Subjekts, was machten diese Blockaden dann z.B. mit der Art und Weise, in der Menschen ihre Sprache benutzen? Sind doch die Grenzen meiner Sprache, die Grenzen meiner Welt!
Und jetzt, so fand ich, erst jetzt, wurde es wirklich spannend. Aber vorher musste ich den Behälter mit dem Biomüll runter bringen. Gut, schon zurück: Was also ist mit der Sprache? Wenn unsere Wahrnehmung der Welt solchen kognitiven Blockaden unterliegt, was ist dann mit unserer Sprache, mit der wir Rückmeldung von unserer Welt geben? Sprache und Wahrnehmung sind ja nicht unabhängig von einander.
Kant spricht in der Kritik der reinen Vernunft von der Anschauung und dem Begriff. Die Anschauung, sagt er, ist ohne die Sprache, ohne den Begriff, der sie also benennen kann, blind. Und der Begriff, die Sprache, allein, sie ist ohne die Anschauung, ohne die entsprechende Wahrnehmung leer. Ein leerer Gedanke gewissermaßen. Stellen Sie sich vor, dass Sie den Begriff Baum haben, den können Sie denken. Aber wenn Sie keine Anschauung von einem Baum haben, wenn Sie noch nie einen Baum gesehen oder anders wahrgenommen haben, dann bleibt für Sie dieser Begriff des Baumes nichts als ein leerer Gedanke.
Und jetzt nehmen wir mal ein literarisches Beispiel. Da wird jemandem ein Pfirsich mit roter Soße serviert, eine Pêche Melba, wie es auf der Speisekarte heißt. Stellen Sie sich das bitte in jeder erdenklichen Weise vor, machen Sie sich davon ganz nach Wunsch jedes mögliche Bild und beschreiben Sie es dann. Ich bin ziemlich sicher, dass bei 99 oder mehr Prozent aller Beschreibungsversuche eben nichts anderes herauskommen würde, als – na, was schon? – ein Pfirsich mit roter Soße halt.
Bei dem englischen Autor Denton Welch steht in dem Roman „Freuden der Jugend“ hingegen diese Beschreibung:
„Die Pêche Melba wurde serviert, mit ihrer dicken roten zähflüssigen herablaufenden Escoffier Sauce. Die beiden Hälften waren wieder zusammengefügt worden, so dass sie wie ein Paar schweißglänzende Hinterbacken aussahen. ‚Wie der Hintern einer Puppe aus Zelluloid‘, sagte sich Orvil. ‚Nur bei dieser Puppe ist er aufgeplatzt, und es kommen Schneeflocken und große Blutklumpen heraus …‘ „
Sie werden das jetzt vielleicht eklig finden, vielleicht halten Sie diesen Autor, den Sie sehr wahrscheinlich nicht kennen (er starb bereits 1948, kaum 33 Jahre alt) auch für ein Schwein oder was auch immer. Aber darum geht es nicht! Es geht darum, dass Ihnen (und auch mir) das wohl in tausend Jahren nicht eingefallen wäre. Da wird ein Pfirsich serviert, und bei Denton Welch wird daraus ein schweißglänzender Hintern, aus dem große Blutklumpen heraus quellen.
Und da laut Kant die Anschauung dieses Hinterns mit diesen seltsamen Ausscheidungen und die Begriffe, mit denen er uns das beschreibt, ohne einander nicht sein können, so müssen Sie davon ausgehen, dass hier nicht jemand einfach einen anderen Wortschatz gehabt hat als Sie, das zwar auch, aber er muss das, was er da so anschaulich auf den Begriff brachte, auch tatsächlich gesehen haben. Man schreibt so was nicht einfach, ohne sich ein Bild davon zu machen, es also zumindest mit dem inneren Auge wahrzunehmen. So wie ich – hoffentlich etwas verlockender – eine hübsche junge Frau mit dem Namen Marthe und einem ganz besonderen Muttermal auf dem Hals wahrgenommen und in meiner Anschauung lebendig habe werden lassen.
Warum fallen Ihnen (und mir?) diese Welchen ’schweißglänzenden Hinterbacken‘ nicht ein, und wenn wir noch so viele Schreibkurse belegen sollten? Weil sie vermutlich niemals zu unserer Welt gehören werden, weil wir kognitiven Blockaden unterliegen, die unsere Wahrnehmung von der des Denton Welch rigoros trennen. Und so ist es letztlich mit den Verhältnissen zwischen allen Menschen, die ein gewisses Maß an personaler Eigenständigkeit erreicht haben, einen eigenen Charakter, so er das Wort wert ist, besitzen und so weiter.
Jeder lebt in seiner ganz eigenen Welt, die durch die persönlichen Grenzen der Wahrnehmung definiert sind, durch die jeweils eigenen Blockaden der Kognition. Und letztlich sind zwei solche Welten, wenn sie das Wort überhaupt verdienen, immer inkommensurabel. Wenn wir miteinander umgehen, so tun wir das in der Regel auf dem recht engen gemeinsamen Bereich der durchschnittlichen Alltäglichkeiten; dort gibt es Schnittmengen, sonst meist nicht.
Für einen Künstler gilt das natürlich ganz besonders. Das ist nicht einfach jemand, der etwas macht, was wir zur Not auch selbst könnten, ein bisschen Interesse und Übung vorausgesetzt. Das ist vielmehr ein ganz anderer Menschen, der, wenn er ein Werk schafft, uns Nachrichten von einem fremden Planeten überbringt.
So, das soll es für heute mal sein. Ich muss mit der Liebsten noch ein bisschen an unserer Bibliothek bauen. Die Küche ist jetzt auf jeden Fall erst mal tipptopp!
Ich wünsche Ihrer Küche das Allerbeste und Ihnen,
dass Sie glücklich bleiben, trotz aller Blockaden
herzlich, Ihr PHG
Ein Kommentar
ANH
F e i n e r Text.