Mit der Geduld eines Steinmetzes
Wiesbaden, 10 Mai 2014, bei Miles Davis: 'Tutu' und other very best aus den Jahren 1985 bis 1991
Zu Wochenbeginn überschritt mein Brasilienroman die dreihundertste Normmanuskriptseite. Ich druckte den Text aus, weil ich wollte, dass meine Liebste das Teilmanuskript liest und kritisiert und fragte sie, was sie meine, wie lange ich schon an dem Buch arbeite. 3 Jahre, sagte sie, ohne zu zögern. Ich nickte, weil das auch etwa mein Gefühl war, schlug dann aber doch im Kalender nach und entdeckte, dass meine Brasilienreise, die die Beschäftigung mit dem Stoff ja überhaupt erst ausgelöst hatte, gerade mal 2 Jahre her war.
Da stimmte also etwas nicht. Und da ich selbstverständlich nicht direkt nach der Rückkehr aus Brasilien mit diesem Buch begonnen haben konnte, so schrumpfte der Zeitraum ganz natürlich auf unter zwei Jahren. Tatsächlich zeigt mein Kalender, dass ich die erste große Schreibphase für das Buch absolvieren konnte, als ich am 2. Juni für einen 14tägigen Arbeitsaufenthalt in das Seebad Prerow fuhr. Die Rückfahrt am 16. Juni und die Hinreise am 2. Juni abgerechnet standen mir also die ersten 12 Tage wirklicher Arbeitszeit am Roman dort in Prerow zur Verfügung.
Demzufolge war der Gesamtzeitraum schon mal auf 23 Monate geschrumpft. Und jetzt ritt mich wohl der Teufel, denn ich begann meine Kalender und Tagebücher zu durchforsten, um zu einer wirklich einigermaßen korrekten Vorstellung über die investierte Arbeitszeit zu gelangen. Und siehe da, ich musste so manche Woche und manchen Monat von meiner eingebildeten bzw. gefühlten Arbeitszeit abziehen. Dabei ignorierte ich freilich Kleinigkeiten, die die Arbeit lediglich um einen Tag unterbrochen hatten. Ich subtrahierte nur größere Reisen oder Seminare, Krankheitszeiten, Buchmessen und Reisen zum Verlag, Zeiten, in denen ich andere Arbeitsprojekte hatte vorziehen müssen usw.
Besonders einschneidend waren dabei die Reisen, denn man fliegt nicht einfach mal nach Israel, Kuba oder Peru, um nur die drei größten Fernreisen, die wir in dieser Zeit unternahmen, zu nennen, ohne dabei Arbeitseinbrüche weit über die reine Reisezeit hinaus zu verzeichnen. Das Schreiben ist ein störanfälliges, weil sensibles, Unterfangen. Es bricht in der Regel deshalb schon einige Zeit vor dem Reiseantritt zusammen und lässt sich nach der Rückkehr auch nicht so einfach wieder aufnehmen. Den Kampf, den es braucht, um wieder im Schreiballtag anzukommen, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Wenn man sich das genau vor Augen führt, dann begreift man auch unweigerlich, warum ein Kollege wie Arno Schmidt seinen Schreibtisch gar nicht mehr verlassen hat und sagte, er sei nicht Idiots genug, um einen Weltreisenden zu beneiden. Er wusste schließlich, wieviel Arbeitszeit ihn Tandemfahrten mit Alice gekostet hatten.
Und dabei muss in meinem und der Liebsten Fall noch positiv notiert werden, dass wir es ziemlich gut haben. Warum? Na ganz einfach, weil wir nämlich uns haben, weil wir zu zweit sind und uns gegenseitig stützen und unterstützen können, weil wir von einander und von unserer Arbeit wissen und sie einzuschätzen vermögen, weil wir deshalb auch um die Gefühle des anderen und seine Probleme wissen usw. Das ist eine so enorme Hilfe, eine so großartige Erleichterung, dass ich fast weinen könnte, während ich darüber hier schreibe. Wenn ich jemals vergessen sollte, was das bedeutet – was ja gar nicht geschehen kann -, so brauche ich mich nur an den Satz meiner ersten Ehefrau A. von vor Jahrzehnten zu erinnern, die sich zu der ultimativen Aufforderung verstieg: »Und wenn du im Urlaub wieder versuchen solltest zu schreiben, so kannst du gleich ausziehen und dir eine eigene Wohnung suchen.«
Heute weiß ich schon längst, dass die Grenzen in einer Beziehung immer von dem Partner gezogen werden, der am wenigsten zu geben hat. Damals hat mich dieser Satz einfach nur in die Verzweiflung getrieben.
Nun, das ist schon so lange alles ganz anders geworden, seit ich mit der Liebsten zusammen bin – immerhin auch schon fast ein Vierteljahrhundert -, aber große Reisen oder auch ihre immer wieder monatelangen Abwesenheiten aus Inszenierungsgründen lassen sich nur bewältigen, wenn man die dadurch entstehenden Lasten gemeinsam trägt.
Lange Rede kurzer Sinn, ich durchpflügte also meine Kalender und sonstigen Aufzeichnung, strich hier zwei Wochen und musste dort einen Monat in Abzug bringen usw., um einen realistischen Eindruck von meiner tatsächlichen Arbeitszeit am neuen Roman zu bekommen, und stand am Ende vor gerade mal 10 Monaten und 5 Tagen. Ein doch recht krasser Unterschied zu den gefühlten 3 Jahren, mit denen unsere Schätzung begonnen hatte.
Okay also, 10 Monate Arbeitszeit für etwas über 300 Seiten, zwei Jahre Lebenszeit sind natürlich trotzdem unwiederbringlich dahin. Und jeder Tag dieser 10 Monate hat naturgemäß im besten Fall 5 Stunden Schreibzeit gehabt, danach verlangt der Alltag sein Recht. Bis zum Abschluss des Buches wird – um nicht übermütig zu werden – höchstwahrscheinlich nochmal ein ganzes Jahr dahingehen.
Es braucht die Geduld eines Steinmetzes, um einen Roman von einer gewissen Länge und Komplexität zu schreiben. Und das heißt auch, dass in unserer heutigen Lebenswelt und angesichts des üblichen Arbeitsalltags unserer Mitmenschen solch ein Tun vollkommen anachronistisch ist. Das tut nur jemand, der dazu verurteilt ist, nicht aus kreativem Vergnügen, als Hobby oder wie die euphemistischen Lügen der planetaren Freizeitindustrie auch immer lauten mögen. So, und jetzt wieder ran an die Tastatur, um die nächsten dreivier Seiten zu produzieren.