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Die Menschheit ist in zwei Teile geteilt

Venedig, 04. Januar 2017, bei Nieselregen vor dem Fenster und John Coltranes "Blue Train" dahinter

Aus Tradition und meinem Gefühl entsprechend beginnt das Jahr für mich stets erst in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar, denn da feiere ich in meinen Geburtstag hinein; was soll mir da der offizielle Jahresbeginn am ersten. Und da ich am 3. Januar nicht arbeite, so startet das Schreiben des Jahres 2017 erst heute.

Auf meiner kleinen Wetterstation wird Regen und fallender Luftdruck angezeigt, ich aber bin heiter. Dies einerseits, weil ich mit 2016 wohl das produktivste Jahr meines ganzen Autorenlebens hinter mir habe, andererseits, da mich die Freude auf die Arbeit am neuen Roman, von dem ich im Dezember bereits die ersten drei Kapitel geschrieben habe, ganz erfüllt. Einen Titel habe ich dafür noch nicht, nicht mal einen Arbeitstitel, der für mich so weit gültig wäre, dass ich ihn hier nennen könnte. In meinen Unterlagen und Computerdateien nenne ich ihn deshalb nach seinem Hauptschauplatz ‚Dortmund: Stahlwerkstraße‘.

Es wird ein sehr persönliches Kindheitsbuch werden, ein intimes Buch sogar, zugleich aber auch ein Buch über den Deutschen Faschismus, der, als ich geboren wurde, noch wie eine Art Unterfutter unter allem lag, und auf dessen Trümmern – die zum Teil noch sehr lebendig waren – die junge Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Aber keine Angst, das Buch liest sich ganz wunderbar.

Mit anderen Worten, ich begebe mich also mal wieder auf Totensuche. Schreiben ist Totensuche, wie Patrick Roth so richtig sagt. In meinem Essay „Das Gewicht der Zeit“ habe ich erstmals davon etwas erzählt.


Man könnte es auch anders ausdrücken. Man könnte sagen, die Menschheit ist in zwei Teile geteilt. In die, die sich erinnern. Und in die, die sich nicht erinnern wollen. Ich gehöre zu der ersten, weit kleineren Hälfte; das Erinnern ist meine Aufgabe und mein Handwerk.

John Berger, 2009

Mit einer Totensuche muss ich den heutigen BLOG-Eintrag auch schließen, weil wenige Stunden, bevor das Jahr für mich begann, es für einen anderen, dessen Person und Werk mich ein Leben lang begleitet haben, endete. John Berger ist 90jährig gestorben. Ich habe ihm vor etwa drei Jahren ein Gedicht gewidmet, von dem meine Liebste immer verlangt hat, dass ich es ihm schicken sollte. Das habe ich nun nicht mehr geschafft. Deshalb nachträglich auf diesem unzulänglichen Weg.

JOHN BERGER

Sein faltiges Gesicht, als hätten sich
die Landschaften und Leben, von denen
er schrieb, in ihn eingegraben. Das Antlitz
des Zeichners wie gezeichnet von der Liebe
die aus seiner Aufmerksamkeit und Teilnahme
an den Menschen und Dingen sprach.

Gegen die Abwertung der Welt
war jeder Text, den er schrieb, jedes Blatt
das er zeichnete, gerichtet.
Etwa gleich alt wie mein leiblicher Vater
war er immer mein Vater im Geist und so
unerreichbar und fern wie alle Väter sind.

Meinem ersten Drehbuch gab ich einen Titel, der
von ihm hätte sein können. Vielleicht habe ich ihn
auch bei ihm geklaut; heute weiß ich das nicht mehr.
Damals hatte ich gerade SauErde, seine Geschichten
vom Lande gelesen. Voll des Respekts für die Arbeit
der Menschen, die er erzählt. Gäbe es ihn nicht –
niemals hätte ich das Sehen gelernt.

(c) Peter H. Gogolin: aus ‚Letzte Gespräche mit der Welt‘

Ich hoffe für Sie alle, dass Sie das Jahr ohne Schäden und mit den schönsten Hoffnungen begonnen haben. Und vor allem, bleiben Sie glücklich!

Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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