Die Orgasmen vom vergangenen Jahr
Wiesbaden, 3. Mai 2016, bei Brittens "Serenade für Tenor, Horn und Streicher" mit Ian Bostridge, Tenor, Radek Baborák, Horn und den Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle
Ein Kollege aus Hamburg schrieb mir, er sei gegenwärtig etwas feige, da er einen dicken Roman fertig habe und sich nicht aufraffen könne, dafür einen Agenten zu suchen. „Dafür Ablehnungen zu kriegen, macht mir – glaube ich – Angst.“ Ich schrieb ihm, dass es mir ähnlich ginge, ich ihn also verstehen könne. Heute fiel mir das wieder ein, und ich dachte, das stimmt im Grunde nicht, denn Angst hast du nicht. Die Vorstellung, mich wieder um einen neuen Verlag bemühen zu müssen – da ja der bisherige schlicht in die Insolvenz gegangen ist und meine letzten fünf Bücher in den Orkus getreten hat -, macht mich vielmehr müde, fürchterlich müde. Es raubt mir so sehr die Kraft, dass ich froh sein kann, für mein gegenwärtiges Schreibprojekt – das Mutterbuch – noch ausreichend Energie aufzubringen.
Schreiben ist ein körperlicher Vorgang und deshalb auch immer ein Energieproblem. Nun ist es mit dem Schreiben sonderbar, denn wenn es gelingt, dann schenkt es einem zugleich die notwendige Energie. Das Schreiben gibt einem immer etwas zurück, manchmal sogar sehr viel. Das Bewerben um Verlage, Agenten, Preise etc. hingegen beraubt einen. Es lutscht einen u. U. ganz aus, etwa dann, wenn man sich, oft mit Widerwillen, der Aufgabe gestellt hat, ein Angebot fertigzumachen, seinen in der Regel wichtigsten Text – was ja der letzte Text zwangsläufig immer ist und sein muss – unverlangt anzubieten, zu begründen, warum dieses Buch wichtig und gut sei etc. und dann Woche für Woche, Monat für Monat nicht die geringste Reaktion zu erhalten, als habe man seine Sendung in ein „Schwarzes Loch“ geschmissen, aus dem ja bekanntlich nichts wiederkehrt.
Im Schreiben ist man, wenn es gelingt, ganz bei sich. Wenn es um das Publizieren geht, ist man hingegen in der Fremde und erfährt das, was man auch auf Reisen in fernen Ländern erlebt, so man noch wirklich reist. Nämlich, dass einen die Welt nicht kennt und nicht braucht.
Das Phänomen begegnet mir seit Jahren bei etwas älteren Kollegen immer wieder. Da mag jemand 30 Bücher auf den Markt gebracht haben, enorm umfangreiche Werke darunter, Bücher, denen ich eine sehr hohe Qualität zuschreibe; heute sitzt er da, weiß nicht wie es weitergehen könnte und klagt, er habe sich wohl niemals ausreichend strategisch verhalten – weil er sich nicht korrumpieren wollte. Andere, die mein eigenes Autorenleben über Jahrzehnte begleitet haben, sind längst verstummt. Und wenn ich irgendwo von ihnen spreche, dann gibt es längst niemanden mehr, der ihre Namen auch nur vage erinnert.
Ende der 90ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schrieb ich in einem Gedicht:
Wenn du nachdenkst, ist
immer alles schon vorbei.
Die Orgasmen wie die regenduftenden
Sommertage vom vergangenen Jahr.
An einem dieser autofreien Wochenenden
in den Siebzigern stand ich auf einer Brücke,
unter der die Weser dahinzog.
Und mit ihr überfüllte Hörsäle,
lange Nächte bei Kant, Hegel und Marx,
weingetränkte Freundschaften,
wechselnde Kontostände
und all die leeren Tage ohne Dich.
Danach dann tausend verwinkelte Treppenhäuser,
die in Träume hinein aber nicht wieder hinaus führten.
Und all diese Menschen rechts und links,
träge dahintreibende Tiefseefische.
Niemand lacht!
Immer ist alles schon vorbei.
Und für einen haarfeinen Moment begreift man,
dass gerade jetzt das eigene Leben stattfindet.*
Darin steckt auch der Umstand, dass das Schreiben ’nur für sich selbst‘ keine Lösung ist. Natürlich geht es einem als Autor im Grunde nur um das Schreiben selbst, eben darum sind ja so viele Autoren schlechte Vermarkter ihrer selbst. Aber ohne die Veröffentlichung werden die Texte gewissermaßen ranzig. Ich mag noch so voller Freude an einem Manuskript gearbeitet haben, wenn es nicht seinen Weg in die Öffentlichkeit findet, dann gehört es halt nur zu den vergessenen Orgasmen vom vergangenen Jahr.
Also wieder rein in die Galeere, die Riemen aufgenommen und gerudert. Ich muss heute noch wenigstens 600 Wörter schreiben – das ist das moderate Tagespensum, das ich mir abverlange. Mögen alle Autoren, die ich liebe, gerettet sein.
* Elegie II, aus „Ich, Nichts, Vorbei“, Gedichtzyklus, Edition art-management, Hamburg 1998