Zu erforschende Welten
Sonntag, 28. September 2014, bei viel Sonne, offener Arbeitszimmertür und Puccinis "La Rondine"
Gerade mache ich mal wieder sehr intensiv die Erfahrung, dass das Schreiben – wenn es nicht gerade um einen Krimi geht, der einem durch seine Schablonenhaftigkeit das Denken weitgehend erspart – große Ähnlichkeit mit der Himmelskunde hat. Wer des Nachts an den Himmel schaut, der wird da einen Haufen unnützer leuchtender Punkte sehen. Dabei kann man es bewenden lassen und sich wieder dem Bier oder anderen Wichtigkeiten zuwenden. Wer jedoch mit den leuchtenden Punkten weiter macht, der wird vielleicht am Ende eine Himmelskarte erstellen und begreifen, dass all diese leuchtenden Punkten zu erforschende Welten sind.
Momentan erlebe ich diesen Vorgang während der Arbeit an dem Text, den ich meinen Bruder-Roman nenne, wieder einmal auf für mich höchst faszinierende Weise. Hatte ich anfangs nur das Ziel, einen Roman über die Rivalität zweier Brüder zu schreiben, der, wenn er thematische Weiterungen berücksichtigte, allenfalls auf den Umstand gerichtet war, dass dieser Stoff bereits in der Bibel behandelt wird, so ist die Entwicklung meiner Geschichte inzwischen in ganz anderen Welten angelangt. Mein Bruder-Roman ist zum einen ein Roman über die dunkle Welt der Depression geworden und wird zudem mein Kommentar zu den Attentaten vom 11. September sein.
Natürlich hatte ich mich mit beiden Themen schon lange vorher in vielfacher Weise befasst, ich war auch in New York auf Ground Zero und hatte immer Kontakt zu Menschen, die an Depressionen leiden, doch wäre ich vermutlich nicht auf den Gedanken gekommen, eines dieser Themen zum Gegenstand eines Buches zu machen. Und als ich mit dem Bruder-Roman begann, da war dies auch ganz eindeutig nicht mein Ziel. Insofern gleicht das Schreiben auch einer Entdeckungsreise. Mit überraschenden Ergebnissen zumal, und das ist gut so, denn was wäre es für eine fürchterlich öde Reise, auf der man nur das sieht, was man sich vor Reiseantritt bereits vorgenommen hat. Sicher, fast alle Menschen reisen so und Autoren von Krimiserien schreiben so, was ihre Leser ja schließlich auch erwarten und ihnen, weichen die Autoren davon ab, prompt ankreiden werden. Etwas Sicherheit muss schließlich sein in unserer so unsicher gewordenen Welt.
Alle anderen Bücher sind gefährlich, was schon allein aus dem Umstand heraus verständlich sein sollte, dass die Autoren, wie in meinem banalen Falle, selbst oft nicht wissen, was sie da eigentlich schreiben und es erst entdecken müssen. Solchen Autoren und ihren Büchern sollte man nicht vertrauen, man sollte sie meiden wie die Pest (heute müsste man wohl Ebola sagen). Und ganz schlimm sind die Bücher, in denen es gewissermaßen um das Herz der Dinge geht. Solche Bücher können das eigene Leben verändern. Zum Glück gibt es die immer weniger. Das ist beruhigend.
Im Grunde hätte es mich sogar vor der Literatur retten können, wenn es früher nicht so viele Bücher von der schlimmen Sorte gegeben hätte. Ich glaube nämlich mittlerweile, dass ich nur deshalb Schriftsteller geworden bin, weil Bücher mein Leben verändert haben. Bücher von Yukio Mishima etwa, von Lawrence Durrell oder von Malcolm Lowry, von William Faulkner, Julien Green und all den anderen, die ihre Musik auf den Spinetten der Finsternis spielten. Diese Autoren sind zum Glück mittlerweile ausgestorben, und das ist in einer Zeit wie der unseren, in der die meisten Bücher so klingen, als hätten ihre Autoren alle den gleichen Schreibkurs absolviert, auch gut so. Denn diese ausgestorbenen Autoren haben etwas gemacht, was man ganz und gar nicht lernen kann. Warum? Das ist schwer zu erklären, aber für meine Begriffe hat das, um was es da geht, niemand besser ausgedrückt als Julien Green, als er sagte „Ein Roman ist aus Sünde gemacht, wie ein Tisch aus Holz.“
Zeigen Sie mir einen einzigen Gegenwartsautor, von dem Sie auf Grund seines Werkes sagen würden, der weiß, was Sünde ist. Es gibt keinen. Woher sollte er auch kommen? Wir leben zwar in einer Welt der denkbar größten Katastrophen, und zwar permanent, doch „Sünde“ gehört zu den aussterbenden Begriffen und besitzt für die meisten Menschen keinen vorstellbaren Inhalt mehr.
Also, ich habe schlicht in meiner Jugend zu viele Bücher gelesen, die aus Sünde gemacht waren. Wäre damals der Buchmarkt schon von all der unterhaltenden Massenware der Genre-Literatur überschwemmt gewesen, ich hätte niemals daran gedacht, Schriftsteller zu werden. Es hätte mich einfach nicht interessiert. Es scheint also so zu sein, dass die Chancen für mich in einem künftigen Leben ziemlich gut stehen. Na ja, hoffen wir mal.
PS: Inzwischen läuft bei mir Vittorio Gnecchis Oper „Cassandra“. Werde mal überlegen müssen, wem ich meinen Musikgeschmack anlasten kann.