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Den Blick zurückwenden

Wiesbaden, den 14. Juni 2013, bei Mozarts "Don Giovanni" in einer Live-Aufnahme von 1967 
unter Böhm, mit u.a. Sutherland, Siepi, Gedda.

Zum Glück gibt es die Erinnerung, diese sich ständig  verändernde Brücke, die uns mit den bunt changierenden Identitäten unserer Vergangenheit verbindet. Und wenn man eine große Bibliothek besitzt, so ist sie angefüllt davon und weist uns überall die Rückwege zu den Goldschätzen und Müllhalden unseres Leserlebens; man muss nur ins Regal greifen.

Ich tat das einmal wieder, als ich am vergangenen Samstag Begleitlektüre für meine Fahrt nach Naumburg an der Saale suchte, wo ich am Abend die Premiere von Shakespeares „Hamlet“ sehen wollte, den meine Liebste neu übersetzt und im mittelalterlichen Naumburger Marientor für das Sommertheater als Freiluftaufführung inszeniert hatte. Mein Griff ins Regal förderte Ernst Jüngers frühes Buch „Afrikanische Spiele“ zu Tage, an dessen erste Lektüre ich mich kaum noch entsann. Es muss etwa in den Jahren 1968/69 gewesen sein, also damals, als ich überhaupt erstmals mit Jünger begann und mich sofort in seinem überwältigend umfangreichen Tagebuchwerk verfing. Freilich wird man mit Jüngers Werk, der am 17. Februar 1998 im Alter von 103 Jahren verstarb, niemals ‚fertig‘ werden, aber die Art wie man nicht mit ihm fertig wird unterscheidet sich doch merklich von anderen.

Deshalb war ich auf sein kleines Büchlein „Afrikanische Spiele“, das erstmals 1931 erschien und das ich in der beim Neske Verlag, Pfullingen erschienenen Neuauflage von 1951 besitze, die der Verlag damals noch nicht als „Roman“ bezeichnete, sehr gespannt. Wie würde mir dieses Buch begegnen? Würde diese Geschichte des romantisch verträumten 16jährigen Herbert Berger – hinter dem sich kaum sonderlich kaschiert die Autobiographie des Autors Jünger verbirgt – mit seiner Flucht aus der Schule und der öden Bürgerlichkeit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die ihn in die französische Fremdenlegion und über Marseille nach Afrika führt, von wo er dann recht schnell durch den Vater zurückgeholt wird, nicht völlig obsolet klingen? Noch dazu für einen Leser, der selbst mittlerweile im siebten Lebensjahrzehnt steht und sich an die Lektüre macht, während er im 21. Jahrhundert mit einem Schnellzug reist? Zwischen den Erlebnissen des Knaben Ernst Jünger alias Herbert Berger, von denen in diesem Buch die Rede ist, und meiner Lektüre liegt inzwischen ja tatsächlich ein ganzes Jahrhundert – und was für eines!

Aber nein, so kam es nicht. Ich muss gestehen, dass Jüngers Buch es ohne sonderliche Mühen geschafft hat, mich in seinen Bann zu ziehen. Und dies einfach deshalb, weil Jünger ein großer Prosaist ist, der die Figuren und das Geschehen seines Buches so plastisch vor den Leser hinstellt, dass alles sofort zu leben beginnt und man an diesem Leben als Leser teilnehmen möchte.

ej

Ich musste während der Lektüre an all die endlosen Querelen im deutschen Feuilleton der 70er und 80er Jahre denken, ob Jünger nun ein Dichter oder nicht doch am Ende immer ein Faschist gewesen sei, ob jemand, der „In Stahlgewittern“ geschrieben hatte, zugleich Anspruch darauf erheben durfte, ein großer Stilist deutscher Sprache zu sein. Im Grunde inszenierte die Besserwisserriege der Nachgeborenen damals so etwas wie einen deutschen Ezra Pound. Natürlich alles eine Nummer kleiner, wie es eben in Deutschland stets ist. Aber der eine oder andere hätte Pounds Pisaner Käfig, doch auch ganz gern in Wilflingen gesehen. Es wurde damals so voraussetzungslos deutlich, dass der Geist links zu stehen hatte, dass jeder, der Jünger verteidigte, sich sogleich selbst dem Verdacht aussetzte, zumindest ein Reaktionär zu sein.

Wie gleichgültig mich als heutigen Leser dieser ganze weltanschauliche Tumult von damals ließ, war ganz allein der Jüngerschen Sprache geschuldet und der Geschichte, die er zu erzählen hat; folgt man ihr, so fällt all dieses Beiwerk wie Plunder ab. Übrig bleibt eine existentiell dichte Geschichte, die von einer Lebenserfahrung und Lebenserkenntnis des damals jungen Autors erzählt, die jedem jungen Menschen des 21. Jahrhunderts nur dringend zu wünschen wäre.

Herbert Berger, Jüngers Held auf der Flucht, muss sich am Ende sagen lassen: „Sie sind noch zu jung, um zu wissen, daß Sie in einer Welt leben, der man nicht entflieht.“ Aber Jünger, der immer gewusst hat, dass die Wahrheit höchst vielschichtig ist, wäre nicht der Autor, der er war, wenn er dazu nicht in seinem Nachwort zur Erstausgabe ergänzt hätte: „Es gibt jedoch Unternehmungen, in denen der Mißerfolg das einzig Angemessene ist …“ Von solch einer Unternehmung erzählt „Afrikanische Spiele“ so eindrucksvoll, dass man als Leser darauf gespannt ist, mit dem Helden jeden Irrweg zu gehen und am Ende zu scheitern. Welches Buch könnte ähnliches für sich in Anspruch nehmen.

 

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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