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Den Idioten geben

Wiesbaden, 21. Mai 2013, bei Mozarts 'Il Sogno di Scipione'

Seit beinahe einem Monat mag ich gar nicht mehr bloggen, da alles, wie ich finde, letztlich doch nur auf mehr oder weniger private Banalitäten hinauslaufen muss. Nun steckt darin naturgemäß immer ein Vergleichen, etwa mit dem Weltgeschehen. Wo käme man hin, wenn man vor dem Hintergrund Nordkoreanischer Raketendrohungen oder des Krieges in Syrien – um von hunderten nur zwei ekelhafte Gegenwartsereignisse zu nennen – hier notierte, dass man heute früher aufgestanden ist, um einige zusätzliche Seiten eines Romans zu schreiben, für den sich vermutlich eh niemand interessieren wird?

Thomas Bernhard schrieb einmal, dass alles sinnlos sei, wenn man an den Tod denke. Diese Haltung teile ich zwar nicht, denn erstens ist es unsinnig, an den Tod zu denken. Und zweitens würde mich das viel eher dazu reizen, dieser Sinnlosigkeit etwas entgegenzusetzen; einen Sinn zu behaupten also, trotz des Todes.

Aber es braucht eh nicht den eigenen Tod, um die Bedeutung des eigenen Tuns mitunter fragwürdig zu finden. Peter Sloterdijk hat dieses Gefühl sehr treffend in Worte gefasst, als er am 2. April 2009 in sein Notizbuch schrieb: „Das Tagebuch ist das literarische Medium der Gleichzeitigkeit. Aus diesem Grund stellt es auch das Vehikel der Belanglosigkeit dar. Kafka gibt den Idioten des Tages, wenn er beim Kriegsausbruch im August 1914 seinen Besuch im Schwimmbad notiert. In den USA wachsen die Zeltstädte, bevölkert von den Krisenverlierern. Idiotisch bin ich, wenn ich heute festhalte, wie im Garten die Krokusse aufgehen.“

So ist es wohl. Wir haben vor dem Hintergrund der Welt, die uns heute in jeder Sekunde einholt, nur noch die Möglichkeit, mit unseren privaten Banalitäten den Idioten zu geben. Und wenn ich lese, dass Autorenkollegen, die ich schätze, in permanenten Blog-Tagebüchern der Welt u.a. ganz hausfraulich mitteilen, dass sie die Wohnung aufräumen, Wäsche waschen gehen oder eine Tafel Schokolade essen, dann könnte mich die Verzweiflung packen.

Voltaire

Aber egal, schlimmer als der Tod ist das auch nicht. Und den halten wir ja auch aus. Also Freude des Banalen, lasst uns heute ein Blümchen pflanzen oder zeitgemäßer auf Facebook ‚Farmeville‘ spielen. Da war ja sogar mal einer, der meinte, alles Elend der Welt käme eh nur daher, dass wir nicht konsequent genug dabei blieben, unseren kleinen Garten der Banalitäten zu bestellen.

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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