Wer sind wir eigentlich?
Alle Sicherheiten und erst recht
die hier geschriebenen
sind handfeste Lügen.
Aus Unsicherheit. Die Fiktion
hingegen ist keine, doch könnte
sie ein Irrtum sein.
(Alban Nikolai Herbst: Poetik)
Wir legen uns in der Regel keine Rechenschaft darüber ab, aber ich bin sicher, dass wir alle inzwischen gelernt haben, mit einem unvergleichlich viel größerem Maß an Unsicherheit über das zu leben, was wir unser Selbst nennen, als unsere Identität bezeichnen, als unsere Persönlichkeit behaupten, oder als unseren – wenn es psychologisch oder gar esoterisch werden darf (es sind ja alles nur sprachliche Zuschreibungen) – Wesenskern betrachten.Wer sind wir? Erfinden wir das nicht jeden Tag neu?
Warum auch nicht? Zwischen der Rimbaudschen Erkenntnis „Ich ist ein anderer.“ und dem von Jean Baudrillard verzeichneten ‚Verschwinden der Dinge‘ liegt gerade mal ein Jahrhundert. Aus dem Verdacht gegen die eigene Identität, den um 1870 ein hochsensibler junger Dichter äußerte, ist inzwischen die Totalität des Simulakrums einer medialen Scheinwelt geworden.
Und damit ist nicht nur die Welt der klassischen Medien gemeint, denn dass morgen in der Zeitung von heute die Fische eingewickelt werden, das wissen wir ja. Ebenso, dass die täglichen TV-Nachrichten mehr und mehr einer Desinformation ähneln und uns dadurch den notwendigen Blick auf die Welt eher vernebeln. Aber was heißt das eigentlich, Blick auf die Welt? Ist er überhaupt noch möglich? War er je möglich? Können wir die Welt in den Blick nehmen? Nein, das können wir nicht.
Und wie verhält es sich dann eigentlich mit den Autoren, den Schriftstellern, den Geschichten- und Welterfindern? Wenn alles eh nur Simulation ist, hat dann ihr Tun noch eine Funktion? Werden die Autoren, diese berufsmäßige Erfinder der Realität, nicht überflüssig, wenn die Welt selbst den Charakter des Erfundenen angenommen hat und unsere Medien uns im täglichen, stündlichen Update auf den neusten Stand bringen?
Nun, ich widerspreche Baudrillard noch immer. Ich gehe nicht davon aus, dass das Ding durch sein Zeichen ersetzt worden ist; auch wenn wir inzwischen ganz unübersehbar in einer Welt der Zeichen leben. Das Zeichen ist einfach eine Notwendigkeit, da wir sprachliche Wesen sind. Aber das heißt nicht, dass unsere Zeichen, dass das Benennende, an die Stelle des Benannten tritt und es auslöscht. Man mag das aus dem Blick verlieren, aber es gibt immer beides.
Und der Autor? Seine Existenz besitzt einen größeren Zusammenhang, denn sein Tun erschöpft sich nicht in der Klammer von Zeichen und Bezeichnetem, in der Geschichte und den Dingen, von der die Geschichte spricht. Ja, nimmt man es genau, dann fängt dort die Aufgabe des Autors noch nicht einmal an. Sie geht vielmehr weit darüber hinaus, indem sie Sinn schafft. Der Erzähler ist kein Stenograph einer irgendwie gearteten Realität. Vielmehr sind wir die, die die Möglichkeiten erproben. Wir entwerfen Realitäten, allerdings keine zwingenden, sondern mögliche. Und das, was möglich ist, es ist nichtmal verpflichtet dem Autor zu folgen. Wo er demnach ankommt, ist immer fragwürdig.