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Lethems Manhatten, Herbst, die Elegien und Rilke

Seit Montag bin ich gedanklich bereits mit der Abreise nach Naumburg beschäftigt, die zwar erst am Wochenende erfolgen soll, mich aber bereits jetzt stark auf meine dort vorgesehene Romanrecherche hin fokussiert. Am Nachmittag des Montag fuhr die Liebste gewissermaßen voraus, da sie mit ihrer Inszenierung von Ecos >>>>   „Der Name der Rose“ heute am Dienstag begonnen hat und die nächsten sieben Wochen beschäftigt sein wird. Meine Anwesenheit wird damit verglichen nur ein Intermezzo sein, zwei bis maximal drei Wochen werde ich die Stadt als Ort für meine Arbeit nutzen, aber ich hoffe, dass ich mit den Vorarbeiten zum Romanprojekt „Die Konzessionen des Herzens“ am Ende ein gutes Stück weiter gekommen sein werde. Der Schwerpunkt wird auf der Erarbeitung des gesamten musikalischen Hintergrundes liegen, Verdi und vor allem Wagner, dann die gründliche Lektüre der Handbibliothek, die ich bereits zusammengestellt habe. Heute kam mir der Gedanke, dass ich mal ein längeres Gespräch mit >>>>  Andreas Baesler führen müsste, denn er ist ja schließlich wie meine Hauptfigur Opernregisseur, auch wenn er viel jünger ist. Werde ihn fragen, ob er Zeit für ein Treffen hat.

Am Montag schrieb ich zudem die Besprechung von Jonathan Lethems neuen Roman „Chronic City“, die HD dann am Dienstagnachmittag auf  >>>>  Glanz & Elend publizierte. Es ist eine rechte Tour de force geworden, die mir viel Spaß gemacht hat und augenscheinlich auch den Lesern gefällt. Ich hatte am Nachmittag auf Facebook bereits einige Rückmeldungen zu dem Text, bis dahin, dass geschrieben wurde, man habe sich das Buch zum Geburtstag gewünscht. Was will man mehr.

Die Tochter ist über das Osterwochenende in Finnland gewesen und schrieb: „In Finnland war es sehr schön. Wir hatten zwar immer noch Eis und Schnee, aber die Sonne hat trotzdem geschienen und wir haben Helsinki genossen. Vielen Dank für die „Kleinigkeit.“ Das Buch klingt sehr spannend und ich werde es sicher heute abend beim Babysitten beginnen.“ Das Buch ist Donna Tartts „The secret history“, das ich ihr zum 25. Geburtstag geschenkt habe. Eva ist wenige Tage vor Tschernobyl geboren. Für mich und ihre Mutter hatte die Reaktorkatastrophe damals eigentlich immer nur den Bezug zu unserer Tochter. Ich vermag mich nicht zu erinnern, dass wir daran gedacht oder gar darüber gesprochen hätten, dass der nukleare Fallout Auswirkungen auf uns selbst haben könne, obwohl das natürlich Quatsch war. Wir haben nur an das neugeborene Kind gedacht, das inzwischen ein Vierteljahrhundert alt geworden ist. Wie schön.

Wir haben übrigens verabredet, dass ich ihre Examensarbeit lektorieren werde. Sie hatte mir, während ich auf der Fahrt nach Berlin war, ihre Arbeit angekündigt. Es werden zwar „nur“ etwa 60 Seiten sein, aber der notwendige akademische Jargon wird mich sicher wieder fordern; ich freue mich darauf.

Am Abend nach dem enttäuschenden Ausgang des Champions League Spieles Schalke gegen Manchester spontan wieder an die noch ausstehende Besprechung der  >>>>   „Bamberger Elegien“ von Alban Nikolai Herbst gegangen, die ich mir aus Leipzig mitgebracht hatte.

Dabei fiel mir erneut auf, dass der Stoff gar nicht gründlich genug angegangen werden kann. Im Grunde ist alles zu hinterfragen, vom Titel über die Bezugnahme auf Aragon bis zur Form der Elegie überhaupt. Der Inhalt, die verhandelte Geschichte, kommt erst danach. Vor allem ist ANHs Satz zu misstrauen bzw. zu widersprechen, es sei ihm egal, ob ein Leser das einfach als Prosa lese, denn schließlich habe er ja eh keine reinen Hexameter benutzt. Er wird nicht so naiv sein, wie dieser Satz tut, denn die Elegie besteht ja eben nicht aus reinen Hexametern sondern aus einer Abfolge von Hexa- und Pentametern, die den Zweizeiler, das Distichon, bilden. Seine Abkehr vom Zeilenbruch, wodurch die Abfolge der Takte im Vers unkenntlich gemacht wird, muss freilich noch einen anderen Grund haben.

Dazu bei Rilke auch nochmals in den „Duineser Elegien“ gelesen und mich etwas mit der historischen Situation vertraut gemacht, der Rilke seine 10 Elegien in fast anderthalb Jahrzehnten Arbeit abgerungen hat. Rilke hat mit der Form der Elegie bewusst versucht, an Klopstock und Hölderlin anzuknüpfen. Es war nichts weniger als der Versuch, die Form der Elegie und des Hymnus wiederzugewinnen. Und nicht nur das, er stellte sich damit auch die Aufgabe, den Beweis anzutreten, dass sie sich unter den gänzlich veränderten historischen Bedingungen als möglich erweisen sollten, also nach Baudelaire, Mallarmé und vor allem den philosophischen Befunden Nietzsches. Mit anderen Worten, Rilke hatte sich vorgesetzt, die Form der Elegie innerhalb des Horizonts der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu rechtfertigen.

Hier sehe ich ein mögliches Problem für ANH, denn nicht nur wäre zu fragen, ob denn seine Bamberger Elegien am Beginn es 21. Jahrhunderts ähnliches zu leisten versuchen. Vor allem wäre zu fragen, ob es überhaupt noch zu leisten wäre, angesichts einer historischen Situation, die eigentlich eine digitale Ontologie zu ihrer Beschreibung benötigte. Und ist der Herbstsche Schreibantrieb aus einer ähnlich zwingenden Notwendigkeit entstanden wie Rilkes fast Kantische Fixierung auf die Elegien, die zu einer gewissermaßen transzendentalen Dichtung führte, in der die Korrelation von Leben und Dichtung bis auf den Grund befragt wurde? Die Duineser Elegien zeigen, dass Rilke das Lebenkönnen als Bedingung der Möglichkeit von Dichtung begriff. Und das Dichtenkönnen hat er entsprechend als die Bedingung der Möglichkeit von Leben erfahren. Daraufhin wird jeder Autor zu befragen sein, der heute Elegien schreibt. Aber natürlich wird ANH hier zwangsläufig scheitern müssen, denn Rilke leistet da ja einen Versuch der Sinngebung, wie er nur vor Anbruch der Postmoderne noch möglich war; in der letzten Abenddämmerung der klassischen Moderne gewissermaßen. Schon fünf Minuten später steht er zwangsläufig unter Ideologieverdacht. Aber das muss ANH wissen, und da er kein Brecht ist, will sagen, einfach frech etwas schreibt, was er zwar „Buckower Elegien“ nennt, ohne aber auch nur die Absicht zu haben, von der Form der Elegie etwas zu verwirklichen, sieht man mal vom inhaltlichen Aspekt der Trauer und Klage ab, so wird man seine „Bamberger Elegien“ daraufhin befragen müssen, ob sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit selbst nachweisen. Bin da sehr unsicher, trotz meiner grundsätzlichen Bewunderung für einen Kollegen, der solch ein Unterfangen in Angriff nimmt. Es ist ja viel größer, als etwa das der Modicksche Sonette, der ohne Begründungszwang spielerisch eine Form benutzt, die durch ihre Eleganz sofort überzeugt; das Sonett erzeugt schließlich selbst die Lust, die ihr Thema ist.

Nun, ich werde mir die Zeit nehmen müssen, die ich tatsächlich brauche, um dieses Buch zu würdigen; selbst wenn es am Ende nur ein Handkuss würde, so sollte er nicht zu flüchtig ausfallen.

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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