Abbildung und Realität
Vor dem Bildschirm, an dem ich gerade schreibe, steht seit über einem Jahr eine Postkarte. Sie stammt aus dem Frans Hals Museum in Haarlem und zeigt das „Stilleven met vruchten, brood en kaas“ von Floris van Dijck aus dem Jahre 1613. Meine Frau und ich sind notorische Postkartensammler. Natürlich würden wir auch jedes Originalgemälde nehmen, aber erstens hängen unsere wenigen Wände, die nicht von Bücherregalen bedeckt sind, schon voll von Bildern. Und zweitens – aber das wissen Sie ja sicher.
Nun, auf dem Bild von Floris van Dijck steht vorn rechts auf dem Rand des Tisches, der unter einer Decke liegt, die mit ihren scharf markierten Falten fast zu realistisch wirkt, um echt zu sein, ein schwarzer Teller, auf dem ein einzelnes Brötchen liegt. Ein schwarzer Teller. Das stelle man sich einmal vor! Haben Sie das schon mal gesehen? Besitzen Sie einen schwarzen Teller? Dieser Teller ist derart schwarz und blank, dass sich die Unterseite des Brötchens in ihm spiegelt. Aber ich muss zugeben, dass mich der Teller eigentlich gar nicht interessiert.
Was dann? Nun, das ganze „Stilleven“ ist natürlich eine Augenweide. Also etwas, auf dem man die Augen in aller Ruhe spazierenführen und sich satt trinken lassen kann. Ich mache das seit über einem Jahr – völlig ungeniert. Es ist die reinste Freude.
Von links her wandert der Blick vom roten Rand des Tischtuchs, das mit Blütenmotiven durchwirkt ist, nach rechts und findet blaue und weiße Trauben, vor denen ein rotwangiger Apfel prangt. Es könnte auch ein Pfirsich sein. Aber ob es zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Haarlem Pfirsiche gab, das muss man bezweifeln. Und außerdem ist die Textur dieser Frucht nicht samtig genug, um ein Pfirsich zu sein. Bleiben wir also beim Apfel, für den auch der typische Stil spricht, der aus dem ovalen Gelb ragt.
Mehr zur Mitte des Bildes hin folgt der prachtvolle Aufbau der Speisen, die diesen Tisch so einladend überfüllen. Auf einer weißen Überdecke mit Spitzenbesatz, die auf der lachsfarbenen Unterdecke liegt, ruht ein großer Käseteller und eine Schale mit Äpfeln, zwischen denen im Hintergrund das Braun eines Brotlaibes schimmert. Davor steht, dem Käse zugewandt, ein flaschengrünes Glas mit Wein – ich gehe einfach mal davon aus, dass man damals zum Käse kein Wasser trank.
Der Käse selbst ist eine Sache für sich, denn die zwei mächtigen angeschnittenen Laibe, auf die ein langes, spitzes Messer zeigt, das mit der Schneide auf dem Käseteller liegt, wirken nicht wirklich einladend. Der untere der beiden Käselaibe mag wohl ein etwas älterer Gouda sein. Von links nach rechts gesehen erfüllt die trocken-buttrige Farbe mehr als zwei Drittel der angeschnittenen Fläche, während die rechte Seite derart bräunlich eingefärbt ist, dass es nicht unberechtigt scheint, hier schon den Tod am Werk zu sehen. Ja, natürlich den Tod, den Vater aller Stillleben.
Wollte dies jemand anzweifeln, so müsste er lediglich den zweiten Käselaib in den Blick nehmen, der auf dem unteren liegt. Kleiner als der Käse an seiner Basis und ganz von einem überreifen, harzigbraunen Laib umhüllt, den man beim Blick auf die Postkarte fast zu riechen meint, bildet er den Höhepunkt der malerischen Konstruktion.
Aber da gibt es noch das Brötchen. Vorn rechts auf dem schwarzen Teller liegt ein Brötchen, dessen Oberfläche, heller als das umgebende hellbraune Oval, auseinander klafft. Es ist das, was man gewöhnlich eine ‚Schrippe‘ nennt. Doch sie ist so sehr eine Schrippe, dass man bei ihrem Anblick schlicht vergisst, dass man ein bloßes Bild vor sich hat. Noch dazu eines, das auf das Format einer Postkarte reduziert worden ist.
Was ist also real? Was nur ein Bild. Was soll diese Unterscheidung?
In den letzten Tagen habe ich einen Skype-Chat mit der Tochter meines Bruders gehabt. In siebzehn Tagen wird sie 6 Jahre alt sein. Wir haben uns fast ausschließlich mit Hilfe von Smileys unterhalten. Sie ist, neben allem, was sie sonst noch sein mag, ein digital native, ein Ureinwohner der digitalen Welt, für die sich die Frage nach dem Unterschied zwischen der Abbildung und der Realität nicht mehr stellen wird.
Und die Kunstproduktion? Wohin wird das, was bisher den Bereich des Imaginären besetzt hat, gehen, wenn letztlich die gesamte Welt ins Imaginäre rückt. Allerdings in ein Imaginäres, das durchaus nicht der Produktion entzogen sondern vielmehr ihr infantiler Motor ist.