Literatur

Post aus Philadelphia

Mittwoch, 14. Juni 2023, bei Mozarts Le nozze di Figaro, in einer Aufnahme aus meinem Geburtsjahr, also 1950, mit Elisabeth Schwarzkopf, Irmgard Seefried, Sena Jurinac, Erich Kunz und George London, mit den Wiener Philharmonikern unter Herbert von Karajan

Dass ich den Roman Calvinos Hotel schrieb, ist inzwischen wirklich sehr lange her. Aber ich erwähne ihn nicht deshalb nur selten, sondern weil er mich in die schwierigste und dunkelste Zeit meines Lebens zurückführt. Davon abgesehen ist es mir mein wichtigstes Buch, das ich, wie sich mittlerweile herausstellt, wohl kaum noch übertreffen werde – aber das interessiert die Welt verständlicherweise nicht.

Nun, gleichviel, dass meinen Verlag ausgerechnet zu Calvinos Hotel zu Monatsbeginn ein Leserinnenbrief erreichte, noch dazu von einer amerikanisch-deutschen Autoren-Kollegin (geboren in Philadelphia, aufgewachsen in Deutschland und nun wohl schon länger in Italien lebend), hat mich dann doch sehr erstaunt. Es war zudem eine Mail, die mit viel Kenntnis meines Romans und seines Schauplatzes geschrieben war und ging so:

Betr.: Casa al Vento
Sehr geehrter Herr Gogolin, Ich lese gerade Ihr wunderbares Buch, Calvinos Hotel. Meine Freundin hat es mir in unserem Haus, (in) Troncheto, hinterlassen. Zuerst hat es mich geärgert, dass sie mir begeistert Calvinos Hotel empfiehlt, nachdem mein Roman The Spring soeben erschienen war, welches auch von den Häusern und Menschen der ehemaligen Fattoria Poggiobartoli handelt. Aber Calvinos Hotel hat ja einen viel weiteren Rahmen; im Vergleich zu dessen komplexen Plot ist meine Geschichte kindlich einfach.

Dass Ihr Buch mit dem Versuch beginnt, einen Brunnen in Casa al Vento zu bohren, ist sicher mehr als bloßer Zufall. Ich habe The Spring vor über zwanzig Jahren geschrieben und dabei die andauernden Probleme mit Wasser, die unsere Familie seit 1974 in Troncheto erlebt hat, als roten Faden in den fiktionalen Zeitraum von ein paar Monaten zusammengedrängt. Dieses Jahr sind die Probleme mit der von drei Häusern geteilten Quelle wieder akut. Ich war vorletzte Woche mit einem geologo und einem ingegnere dort oben bei Luciano di Sotto. Es interessiert mich sehr, was Ihre Beziehung zu der Casa al Vento ist—waren sie als Besucher dort oder haben Sie wirklich mal da gelebt? In The Spring steht der Satz, „Above the clouds I hear the boom of a fighter plane flying at supersonic speed, on exercise from a military base somewhere nearby.” Das war also sicher Richard Thallmann.

Mit freundlichen Grüßen, M. W.

Mail an den Kulturmaschinen Verlag, vom 2. Juni 2023

Ich musste mich nach der langen Zeit zuerst selbst neu orientieren, was zum Glück mit Google Earth gelang, denn mehr als drei Jahrzehnte, das ist kein Pappenstiel; das Buch spielt immerhin während des Balkankriegs. Und dann antwortete ich der geneigten Leserin und Kollegin:

Sehr geehrte Frau W.,

haben Sie Dank für Ihre nette Mail, es freut mich natürlich, dass Ihnen mein Roman „Calvinos Hotel“ gefällt und Sie darin so viele Anklänge an Ihre eigene Geschichte im Mugello gefunden haben. Es ist für mich ein Echo aus einer fernen Epoche. Ich denke aber, dass Ihr und mein Mugello auf sehr verschiedenen Inseln der Zeit existieren und auch Orte, trotz gleicher Namen, möglicherweise nicht identisch sind.

Deshalb will ich kurz versuchen, meine Zusammenhänge zu rekonstruieren, damit Sie sehen können, ob Ihre Vorstellungen da tatsächlich hineinpassen: Ich veröffentlichte 1981 meinen ersten Roman. In den Folgejahren hatte ich die üblichen Schwierigkeiten mit dem zweiten Buch, woraufhin mir eine Hamburger Freundin anbot, mich zum Schreiben in ihr Haus in der Toskana zurückzuziehen. Sie hatte dieses Haus aus den Scherben ihrer Ehe mit einem Professor gerettet, mit dem gemeinsam sie es zuvor über viele Jahre aus mehreren alten Schafställen restauriert, renoviert, neu erbaut und, wenig originell, „Villa Nova“ genannt hatte. In dieser Villa Nova lebte ich vom Frühjahr 1983 bis zum Sommer 1984, um meinen zweiten Roman zu retten. 

Die Villa lag auf einem Hügelrücken, einem Poggio,  oberhalb der von Ihnen erwähnten Villa Poggio Bartoli, die damals nicht bewirtschaftet war. Ich konnte von meinem Olivenhain hinter der Villa auf die Poggio Bartoli hinunter schauen, in der damals wohl nur eine einzige Familie wohnte, die manchmal ihre Wäsche zum Trocknen aus den Fenstern hängte. Dass diese Villa in meinem Roman „Calvinos Hotel“ als eine bewirtschafte Genossenschaft beschrieben wird, ist eine reine Erfindung von mir. Falls daraus inzwischen, wie Sie schreiben, eine Fattoria geworden sein sollte, so hat die Zeit, trotz ihrer üblichen Trägheit, meinen Roman vielleicht endlich eingeholt.

Oberhalb der Villa Nova lag und liegt wohl noch immer ein Bauernhof, der damals der Familie Maronzini gehörte. Und wiederum oberhalb dieses Hofes und etwas nördlich davon gab es die/meine „Casa al Vento“, das Haus im Wind, damals eine verfallene Ruine, die ich während meiner Wanderungen in den Kastanienwäldern der Umgebung lediglich ein oder zweimal besucht habe, um die Mauern zu erklettern und von dort aus ins Tal zu blicken. Aus dieser „Casa“ hat meine Phantasie später das von Don Calvino betriebene Hotel gemacht (mit einer kleinen Schützenhilfe von Italo Calvino).

Aber, damit kein Missverständnis aufkommt, ich schrieb damals 83/84 in der Villa Nova NICHT den Roman „Calvinos Hotel“; es existierte kein Gedanke daran. Ich schrieb vielmehr den Roman „Kinder der Bosheit“, der 1985 fertig und 1986 publiziert wurde. Ein Buch, das in der frühen Nachkriegszeit in Norddeutschland spielt. 1988 erhielt ich für diesen Roman den Preis der Deutschen Akademie Rom, Villa Massimo. Das ganze Jahr 1989 verbrachte ich deshalb in Rom. In die Villa Nova kehrte ich nur noch einmal zurück, das war zum Jahreswechsel 1990/1991, als ich dort mein Theaterstück „Das Geheimnis des Alten Waldes“ schrieb, das auf Dino Buzzatis gleichnamigen Roman beruht „Il segreto del bosco vecchio“. 

Von einem Roman namens „Calvinos Hotel“ immer noch kein Wort. Die ersten Seiten von Calvino entstanden erst am 8. Juli 1992 (das handschriftlich Manuskript mit Datum existiert noch), als ich mich in Domburg, an der Küste von Walcheren (Niederlande) aufhielt. Es ist das Anfangskapitel, das mit den Sätzen „Meine Mutter, die in ihrer Jugend oft …“ usw. beginnt.

Ich schrieb das Buch dann während der ganzen Jahre des Bosnienkrieges, und es endet in etwa mit dem Friedensschluss von Dayton. In meinem Essay „Das Gewicht der Zeit“ ist der Entstehungsprozess etwas genauer veröffentlicht worden. Der Roman wurde aber erstmals 2011 publiziert; über zehn Jahre hindurch hatte ihn wegen des Kriegs-Themas kein Verlag haben wollen. 

Ich habe mir den Schauplatz meines Aufenthaltes heute mit Hilfe von Google Earth nochmals angesehen. Meine „Villa Nova“ liegt nordöstlich von Vicchio di Mugello, wohin ich von Florenz mit dem Zug über Pontasieve fuhr. Da ich kein Auto hatte, so fuhr ich von Vicchio mit einem Fahrrad, das ich aus Hamburg mitgebracht hatte, via Vespignano, Padule und Molezzano Richtung Gattaia in die Berge hinauf zur Villa Nova. Laut Google Earth werden die Gebäude der Villa heute unter der Bezeichnung „Le Due Volpi“ als ‚Bed and Breakfast‘ angeboten. Füchse (und Wölfe) gab es damals dort ebenfalls schon genug.

Die Bezeichnung „Casa al Vento“ gibt es in der Gegend mehrfach, sodass wir da durchaus verschiedenes meinen können. Die Familie der Bartoli hat ebenfalls viele Anwesen besessen, wir müssen da also nicht das selbe meinen. Und ja, das Bohren der Brunnen, von dem Sie schreiben, es könne kein Zufall sein, ist tatsächlich keiner. Trotzdem ist die ganze Brunnen-Episode ohne realen italienischen Hintergrund. Ich habe sie mir ausgedacht und hatte dafür nur meinen jüngeren Bruder Udo (leider längst verstorben) als Vorbild, der im Ruhrgebiet in der Nähe von Dortmund lebte und dort in seinem eigenen Garten einen Brunnen gebohrt hat. Mit wenig Ergebnis.

Hoffentlich sind Sie jetzt nicht enttäuscht. Ich wünsche Ihnen für Ihre Bücher von Herzen viel Erfolg.

Ganz herzlich, Peter Gogolin

PS: Der Überschalljäger mit General Richard Thallmann kam damals aus Vicenza. Ein inzwischen wohl aufgelöster Nato-Standort.

Ja, so weit meine Leserpost, die mich in ein vergangenes Jahrhundert zurückführte. Der Friedensschluss von Dayton, der damals die Balkankriege beendete, erweist sich bis in die Gegenwart als sehr brüchig. Und Engel über dem Mugello fliegen längst nicht mehr.

Bleiben Sie trotzdem glücklich
wünscht Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker