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Den Fluss hinauf

Samstag, 3. September 2022, bei Ketil Bjørnstads Album „New Morning“

Kam kurz vor acht aus tiefen Wäldern und fand es minutenlang schwierig, in der schnöden Gegenwart die Füße aus dem Bett zu schwingen; eines meiner früheren Leben muss im Regenwald stattgefunden haben. Ich träume immer mal wieder davon, ohne dass ich real jemals dort gewesen bin. Selbst während meiner Zeit im Norden Brasiliens, wo ich 2012 war und den Stoff für meinen Roman „Der Mann, der den Regen fotografierte“ fand, hielt ich mich vom Regenwald fern und verbrachte meinen Aufenthalt in der Stadt.

Schon in einer frühen Notiz, sie datiert von 1996, taucht dieses Traummotiv in meinen Aufzeichnungen auf und wurde damals von mir augenscheinlich als Todesmotiv gedeutet. Die wenigen Zeilen in alter Rechtschreibung gehen so:

DEN FLUß HINAUF   (Erzählung)

Notiz zum Inhalt: Geschichte eines Mannes, der von einer Flucht, gemeinsam mit einer Frau, träumt. Sie fliehen durch ein Urwaldgebiet, – den Fluß hinauf, wie es im Traum ausdrücklich heißt -, werden dabei von Soldaten verfolgt und beinahe gefaßt bzw. erschossen, und die Frau entzieht sich der Verhaftung/dem Tod durch den Sprung von einem hohen Felsen, tief hinunter in die Schlucht, in der der Fluß weißschäumend tobt. Der Mann träumt diesen Traum in mehreren Nächten hintereinander, doch bricht der Traum jedesmal ab, sobald er kurz vor der Entscheidung steht, ihr hinterher zu springen, und er erwacht. Erzählt werden soll vor allem der Umstand, daß dieser Traum immer deutlicher das Leben des Mannes zu überlagern beginnt, in sein Leben eindringt, bis er in einer letzten Nacht in seinem Traum bleibt und springt. Er wird nicht mehr aufwachen.

notiert: Freitag, 29. November 1996 um 21:43

Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte noch jemals schreiben werde; der Umstand, dass ich es bisher nicht getan habe, spricht eher dagegen. Was mir diese Traumepisode bemerkenswert macht, ist weniger die Geschichte selbst, zumal sie ja nur Fragment ist, sondern der Umstand, dass sie zu dem halben Dutzend Erinnerungen und Träumen gehört, die so unerhört bildhaft, anschaulich und plastisch sind und sich dadurch von allen meinen sonstigen Träumen unterscheiden, dass sie sich mir immer als reales Geschehen eingeprägt haben, obwohl die Handlung selbst keinesfalls in mein tatsächliches Leben passt und zu keiner mir erinnerlichen Zeit gepasst hat.

(c) Bild: Kornelius Wilkens: Ankunft auf Hedingsöe

Zu vielen Dingen und Ereignissen steht einem auch gar kein Urteil zu, sie gehören einem einfach nicht, wie man oberflächlicherweise anzunehmen geneigt ist, sie tauchen auf und verschwinden wieder, auch quer zum Strom der Zeitrichtung, als sei man nicht kontinuierlich man selbst, sondern nur Kanal, mit dem einzigen Recht, als erster zu staunen, was da hindurch seinen Weg sucht.

Das obige Bild scheint von dieser Art zu sein. Kornelius Wilkens, der Illustrator meines kleinen Bandes „Der unsichtbare Hund“, malte es als erstes einer Serie von 16 Bildern, die meine Novelle „Er kommt erst am Abend zurück“ illustrieren sollten. Inzwischen ist dieses gemeinsame Arbeitsprojekt längst hinter dem Horizont entschwunden und wird wohl nur eine Erinnerung bleiben. Schade. Aber vielleicht auch nicht. Man kann nicht jeder Frau hinterher in die Schlucht springen. Das mag die Lehre sein, die man aus beidem ziehen sollte.

Bleiben Sie glücklich und
träumen Sie nicht, wünscht
PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker