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Ein Leben voller Geschenke

Samstag, 16. Juli 2022, bei Musiken von Abdullah Ibrahim und dem Wind im Haselnussstrauch vor meinem geöffneten Arbeitszimmerfenster

Die Vergangenheit ist ein Stein. Wenn man
ihn festhält, kann man nicht schwimmen.

Die letzten zehn Wochen waren recht schwer. Vor allem zwei Ereignisse haben mich niedergedrückt und, ja, beschädigt, um es genau zu sagen. Dabei schien ich das erste dieser Ereignisse im Grunde in eine große Freunde gewandelt zu haben. Das kam so. Ein Verwandter schrieb mir nach Jahren mit dem Betreff „Das Leben ist voller Geschenke“. In der Mail hieß es: „Hallo, heute melde ich mich, weil ich dir was schenken will! Schaff mal Platz bei dir, hier warten ein paar tausend Bücher auf dich. Angucken, einladen und gut ist. Beste Grüße“. Meine überraschte Nachfrage ergab, dass er sich nach einer Mieterhöhung seine seit Jahrzehnten bewohnte Wohnung nicht mehr leisten könne. Er suche was Kleines für sich allein und müsse deshalb auch seine Bibliothek aufgeben. Das war traurig genug. Dabei war er mal jemand gewesen, der den Satz von Arno Schmidt unterschrieben hätte, der auf die Frage, ob er auf den „Roten Knopf“ drücken würde, um den bösen Zustand der Welt zu beenden, geantwortet hatte: „Was, ich meine Bibliothek vernichten?“

Wo willst du denn hin? fragte ich ihn. Und er, ach, wenn ich das hier alles los bin, dann kann ich überall hin, ins Ruhrgebiet oder in den Osten, kein Problem. Er weiß es also nicht, dachte ich, und als ich es am Abend meiner Frau erzählte, da ergänzte sie, oder in den Tod. So weit hatte ich noch nicht gedacht, aber es lag auf der Hand. Er war ein kranker Mann, der auf die Siebzig zuging, seine verschiedenen Frauen hatten ihn allesamt verlassen, die Kinder aus den diversen Ehen waren aus dem Haus, dazu trank er wohl auch. Auf was konnte das hinauslaufen, wenn er jetzt auch noch seine Wohnung und die Bücher verlor? Um es kurz zu machen, meine Frau und ich beschafften ihm eine neue Wohnung, in die er am Jahresende einziehen und, man denke!, mietfrei hätte wohnen können/sollen. Das war der Moment, in dem ich glaubte, dieses riesige Problem in eine große Freude umgewandelt zu haben.

Leider begann die Ernüchterung über diese Fehleinschätzung auf dem Fuße. Nachdem wir diese Absprache getroffen hatten, verging im Grunde kein Tag, an dem er mich nicht maßlos beleidigte und seine Verachtung meiner Person und meiner Arbeit zum Ausdruck brachte. Eine Freundin, der ich das erzählte, mutmaßte, dass ich übertrieb und einfach zu empfindlich sein. Schriftsteller wie ich wollten halt immer nur gebauchpinselt werde, glaubte sie. Das war dann noch eine zusätzliche Beleidigung oben drauf. Dabei waren die Beleidigungen meines Verwandten keinesfalls misszuverstehen, damit hätte er sich nicht zufriedengegeben. Er nannte meine Aussagen, wenn ich ihm schrieb z.B. „Heiliger Kuhmist überbacken auf Toast“. Und er teilte mir auch unumwunden mit, warum ich und meine Arbeit ihm „am Arsch vorbei“ ginge.

Natürlich hätte ich mich da längst fragen müssen, was ich da überhaupt mache und was ich mir noch alles gefallen lassen wollte, gewissermaßen als Dank dafür, dass ich ihm eine mietfreie Wohnung beschafft hatte. Das einzig Positive war im Grunde, dass er nicht hinterhältig verfuhr, denn dann hätte er bis nach seinem Einzug gewartet und mich erst dann in den Hintern getreten. Nein, er tat es sofort. Im Grunde war er immer so gewesen; die Menschen ändern sich ja nicht.

Ich begriff erst, was hier vorging, als ich einen Unfall hatte – das zweite Ereignis, von dem ich schrieb -. Ich stürzte, schlug mit dem Rücken auf einem steinernen Vorsprung auf und verletzte mich schwer. Ich hätte auch mit dem Kopf oder dem Rückgrad aufschlagen können, was meinen Tod bedeutet hätte. So wurde es nur eine schwere Prellung mit handtellergroßer Fleischwunde. Als ich ihm davon schrieb, ignorierte er es vollständig.

Ich begriff diese absolute Empathielosigkeit erst, als ich mir eine frühere Mail von ihm wieder heraussuchte, in der er mich mit folgenden Worten zurechtgewiesen hatte: „Ich muß mal erläutern was ich tue und womit ich meine Zeit verbringe. Ich beschäftige mich ausschließlich mit Theorie, besser mit Theorien. Ich verbringe damit 24h am Tag und ich bin dabei extrem unversöhnlich, um es gelinde auszudrücken. Vielleicht ein paar Beispiele: Kants Theorie der Vernunft, Hegels Theorie des Geistes, Fichtes System der Wissenschaften, Darwins Theorie der Evolution, Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung, Habermas’ Theorie der Kommunikation und Rationalität, Luhmanns Differenztheorie der Gesellschaft, Quantenfeldtheorie. Das sind echte Theorien und so meine Favoriten. Nicht einfach nur darüber schwadronieren, sondern bis in die Tiefe durchdringen und jede Aussage belegen können. Da ist man ziemlich beschäftigt. Vielleicht vermittelt das einen Eindruck. Alles andere geht mir am Arsch vorbei.“

Ja, das vermittelte mir dann endlich, viel zu spät, einen Eindruck, mit was für einer Art Mensch ich es hier zu tun hatte, sodass ich ihm mit viel zu großer Verspätung mitteilte, er möge aus meinem Leben verschwinden und sich woanders nach einer Wohnung umsehen, bei mir sei keine mehr frei, was er mir dann natürlich auch prompt vorgeworfen hat.

Ach ja, abschließend noch ein Wort zum Thema Vergangenheit, Stein und Schwimmen. Die beiden kurzen Textzeilen zu Beginn meines heutigen Posts bringen mein Lebensproblem zum Ausdruck. Ich habe immer zu schwimmen versucht, ohne diesen verdammten Stein aufzugeben, der mich so oft fast ertränkt hat. Auch die Episode mit dem wohnungssuchenden Verwandten gehört dazu, denn natürlich hätte ich diesen Menschen schon vor ewigen Zeiten aufgeben müssen. Er hat einmal sogar versucht, mich zu ermorden. Ich entkam ihm glücklicherweise und hatte hinterher nur einen gebrochenen Fuß. Den Mordversuch habe ich ihm vergeben, weil er betrunken war. Das stelle man sich mal vor.

Aber jetzt habe ich es endgültig gelernt. Und zwar in Bezug auf alle Steine, die ich mit mir herumgeschleppt habe. Das gilt auch für B. und E. und L. und den ganzen Rest der üblen Mischpoke. Schert euch!

Dem Rest der Menscheit wünsche ich hingegen,
er möge glücklich bleiben,
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker