Soll ich antworten? Nach 30 Jahren
Samstag, 04. Juni 2022, bei ‚The Art Of The Trio, Vol. 3: Songs‘, von Brad Mehldau Trio
Ich halte es mit Wolfgang Pauli:
„Die Dinge kommen zu dem, der zu warten weiß.“
DG
Es erreichte mich eine, zumindest für mich, erschütternde Mail. Vorgestern, um zehn Minuten vor dreiundzwanzig Uhr, im Grunde habe ich mich davon noch immer nicht erholt, weil dadurch die qualvollste Zeit meines Lebens wieder aktualisiert wurde. Nun, wie erzähle ich das? Vielleicht so, von Anfang.
Also – Jahrzehnte hindurch habe ich Schreibschüler unterrichtet, massenhaft, was ich, mal leiser, mal lauter, stets als meine Sklavenarbeit bezeichnet habe. Das hat nicht nur einen Großteil meiner Lebenszeit aufgefressen, auch mein eigenes Schreiben ist dadurch verhindert – ach, was für ein perfider, bagatellisierender Ausdruck – vernichtet worden. So weit, so sehr und so lange, dass man mir, als ich nach ewigen Zeiten doch noch mit einem neuen Roman zurück auf den Buchmarkt wollte, höhnisch öffentlich zurief, ich sei dafür zu alt. So jemanden brauche man nicht mehr.
Warum habe ich das getan? Nun schlicht deshalb, weil ich Geld brauchte, weil ich meine Familie ernähren musste. Es begann wohl etwa 1983/84, während ich bereits seit Jahren an meinem zweiten Roman arbeitete, der dann im Frühjahr 1986, nach fünf Jahren Arbeit daran, endlich erschien und mir später den Preis der deutschen Akademie Rom, Villa Massimo, einbrachte. Damals besorgte mir eine Autoren-Kollegin, der es ähnlich ging wie mir und die um meine Nöte wusste, einen Job bei einer Schreibschule. Damit begann eine Arbeit, die mir einerseits zwar das Überleben sicherte, andererseits aber alles andere beinahe verunmöglichte. In den Hochzeiten hatte ich bis zu zehn, zwölf Schülerarbeiten pro Tag zu erledigen, im Schnitt jede so acht bis zehn Textseiten lang. Die las ich, korrigierte sie handschriftlich und besprach bzw. kommentierte jede jeweils in einem zweiseitigen Korrekturbrief. So kam ich im Schnitt jährlich auf etwa 25.000 bis 30.000 mit der Hand zu lektorierende Textseiten, die auf bis zu 6.000 Briefseiten zu besprechen waren. Dazu kam der tägliche Gang zum Postamt, um die fertig bearbeiteten Einsendungen noch rechtzeitig vor der letzten Leerung einzuliefern. Aus dieser Zeit stammt mein Gedicht „In der Nacht Walzerklänge“
Mein Herz, dieser fremde Gast in der Brust.
Regelmäßig am Nachmittag klopft er an,
etwa zwischen vier und fünf.
Ich nehme ihn dann mit auf den Postgang,
rede mit ihm wie mit einem unartigen Kind.
Aber er hört nicht auf mich.
Mag sein, ich habe mit ihm einen alten Vertrag,
an den ich mich nicht erinnere,
und er erfüllt nur seine mahnende Pflicht.
Mag sein, er weiß etwas, das ich nicht wissen will.
Es ist vermutlich das Licht, der Geruch von feuchtem Haar und
Walzerklänge in der Nacht. Die ganze lange Geschichte eben.
Dazu Farben. Resedagrün zum Beispiel, das Blau
im Innern des Eises und das unglaubliche Leuchten
im Moment der Berührung einer fremden Haut.
Mag sein, zwischen uns besteht ein Vertrag
über die Dinge, denen ich untreu geworden bin.
Das Herz kennt all das und bewahrt es auf,
für den Tag, da es bricht.
Tja, so ist das mit den Schriftstellern, diesen armen Idioten, wenn sie vor Erschöpfung glauben, gleich einen Herzanfall zu bekommen und trotzdem auf den letzten Drücker zum Postkasten laufen, dann schreiben sie hinterher darüber auch noch ein Gedicht. Ich könnte weinen, wenn ich daran denke.
Diese Arbeit machte ich ein Vierteljahrhundert hindurch. Es waren die Jahre meiner Verzweiflung. Das war auch die Zeit, in der ich vom Buchmarkt verschwand. Ich beendete diese Arbeit erst, als 2008 mein Vater starb. Direkt nachdem mein Bruder D. mir die Nachricht vom Tod des Vaters überbracht hatte, überkam mich das Gefühl ersticken zu müssen, wenn ich auch nur einen einzigen weiteren dieser Texte von Schreibschülern bearbeitete. So hörte ich auf. Mir war in diesem Moment völlig unklar, was passieren würde, wie ich Geld verdienen sollte, wie ich überleben könne usw., doch ich hätte meinem toten Vater nicht in die Augen blicken können, wenn ich auch nur einen einzigen weiteren Tag lang mein Leben in dieser Weise in den Dreck getreten hätte.
Nun könnte man als ahnungsloser Mensch natürlich sagen, was will der Gogolin eigentlich? Verdient Geld, indem er am Schreibtisch sitzt und nette Texte korrigiert. Aber so ist es natürlich nicht. Jeder Lektor, jeder Korrektor, jeder Mensch, der jemals in einem Verlag gearbeitet hat, weiß das. Die allermeisten Texte, die man bekommt, sind schlicht fürchterlich. Und ihre Autoren sind derartig von sich eingenommen und unwillig etwas zu lernen, dass es kaum zu beschreiben ist. Ich hatte zu dieser Zeit einen Zettel am Bildschirm des Computers kleben, auf dem der Satz „People don’t learn.“ stand, um mich immer wieder daran zu erinnern. Ich hätte auch die schriftliche Abmahnung der Leitung meiner Schreibschule dorthin kleben können, in der es hieß „Hören Sie doch endlich damit auf, den Leuten etwas beibringen zu wollen. Sie sehen doch, dass Sie sich nur Beschwerden einhandeln.“ Was ich dort ein Vierteljahrhundert hindurch betrieben hatte, es wird im I Ging, dem alten Weisheitsbuch der Chinesen, „Die Arbeit am Verdorbenen“ genannt.
Aber kommen wir zurück zum Anfang, zu der Mail, die ich vorgestern nach 30 Jahren erhielt. Da schickte mir eine Frau, die mal meine Schülerin gewesen war, das Foto eines meiner Korrekturbriefe, er stammt vom September 1992, und sie schrieb dazu:
Sehr geehrter Herr Gogolin,
Gerade beim Einpacken fuer Umzug gefunden.
Bis heute habe ich ihr Schreiben aufgehoben.
Sie hatten so recht. (Entschuldigung meine Rechtschreibung ist noch schlechter geworden in den vielen Jahren)
Damals war ich so verletzt, dass ich nicht mehr weitergemacht habe, trotzdem war ihre gesammte Kritik verdammt ehrlich und korrekt. Heute macht sie mich neugierig, sollte ich je diesen elenden Umzug hinter mich bringen, was von ihnen zu lesen.
Mit freundlichen Gruessen
D.Der Betreff der Mail lautet: Ich war ein miserabler arroganter Schueler
Tja, so geht es zu. Was denkt die Frau? Ich meine, ich könnte längst tot sein. Und natürlich wird sie nie etwas von mir lesen, denn sie muss ja erst den Umzug erledigen. Genau das war aber schon vor 30 Jahren ihr Problem. Ich erinnere mich an alles. Sie war nämlich Flugbegleiterin, flog ständig um die ganze Welt und lebte in den Hotels am Flugplatz, bis der nächste Flug anstand. So erhielt ich von ihr ständig irgendwelche abgerissenen Bögen von Hotelbriefpapier, mitunter nur halbe Seiten, schräg durchgerissen, wohl um überflüssiges Gewicht für den Luftpostbrief zu sparen, auf denen sie zwischen zwei Flügen hastig mit der Hand etwas gekritzelt hatte. Und wenn ich ihr dann schrieb, dass so das Schreiben nicht zu erlernen sei und sie ernsthafter werden müsse, weniger oberflächlich usw., dann beschwerte sie sich bei der Schulleitung.
Und ich Trottel habe das immer noch im Kopf; mein ehernes Gedächtnis ist ein Fluch.
Bleiben Sie trotzdem glücklich
und schreiben Sie bitte nicht
wünscht Ihr PHG