Literatur

Die Grenzen der Vernunft? Erreicht?

Freitag, 27. Mai 2022, bei „Everybody Loves Angels“ von Bugge Wesseltoft

Vor etwa zwei Wochen bekam ich ein Mail von einem Bekannten, der die Anzahl der Covid-Neuinfektionen mitteilte. Das sah etwa so aus:

Guten Morgen, schönes Wochenende,
7-Tage-Inzidenz
477,0
7-Tage-Fallzahl
396.682
COVID-19 Fälle zum Vortag
+61.859
COVID-19 Fälle gesamt
25.723.697
COVID-19 Todesfälle zum Vortag
+144
COVID-19 Todesfälle gesamt
137.492

Ich fand das gut, fragte aber an, wie er dazu komme, denn die Mai hatte mich ohne Erklärungen erreicht. Seine Antwort lautete: „Ich geben jeden Morgen die aktuelle Statistik an Bekannte weiter. Seit mehr als zwei Jahren. Im Grunde bin ich der Meinung, dass das überhaupt kein Thema der Politik sein sollte. Für mich ist das ein gesellschaftliches Thema. Heute sind es ja „nur“ 144 Tote, aber in der Regel sind es 250 bis 300 Tote an einem Tag und die Leute jammern, dass sie nicht ins Kino oder ins Kabarett gehen können, weil die KULTUR schaden nehmen würde.“

Das fand ich immer noch sehr gut, gab ihm Recht und schrieb entsprechend, wie notwendig und vernünftig ich seine Initiative fände. Seltsamerweise bekam ich in den Tagen danach seine Covid-Infos nicht mehr. Vermutlich war ich aus der Liste seiner Bekannten prompt wieder gestrichen worden. Nun, ich ließ das auf sich beruhen, denn ich bin ja bereits ein großer Junge, der sich auch selbst informieren kann.

Gestern kurz nach 19 Uhr bekam ich wieder eine Mail von ihm. Er teilte mir mit, dass er heute um 20 Uhr bei mir ankommen könne. Ob mir das recht sei? Mir war das im Prinzip recht, doch waren wir auf solch einen spontanen Besuch nicht vorbereitet, vor allem deshalb nicht, weil meine Liebste noch bis 22 Uhr unterrichten muss. Ich fand es schade, aber rief ihn an und sagte ab. Dabei verlief das Gespräch etwas merkwürdig, fand ich zumindest. Im Hintergrund sehr viel Geräusch und Gespräch, das mir irgendwie bekannt vorkam, mein Bekannter dazu sehr einsilbig; er sagte wohl nur „Ja“, etwa acht- bis zehnmal, als sollte niemand verstehen, mit wem er sprach und über was.

Nun, wie so oft, lange Rede kurzer Sinn: Es dauerte noch etwa eine Stunde, bis ich alles begriff. Es war ja schließlich Vatertag, und er war zu einer entsprechenden Feier eingeladen worden. Er hatte sich daraufhin das 9,00 Euro-Ticket gekauft und war den ganzen Tag die 450 Kilometer von seinem Wohnort bis zum Ort der Feier mit den entsprechenden Nahverkehrszügen gefahren, was auch die späte Uhrzeit seiner Mail erklärte. Und dann wollte er die berühmte zweite Fliege mit dem 9,00 Euro Ticket fangen, indem er am nächsten Tag die 530 Kilometer zu mir zurücklegte. Das würde wieder sehr lange dauern, aber er hatte sich ja erst für 20 Uhr angesagt.

Jetzt könnte man natürlich sagen, wie nett ist denn das von Deinem Bekannte, wenn er solch lange Fahrten auf sich nimmt, um Dich zu besuchen. Aber mal abgesehen davon, dass er das niemals getan hätte, wenn er nicht auf diese Vatertagsfeier eingeladen worden wäre, rechne ich doch etwas anders. Die Rechnung lautet so: knapp 1.000 Kilometer zweimal längs und quer durch die Republik, mit vermutlich äußerst vollen Regionalzügen, um den Covit-Brandbeschleuniger 9,00 Euro-Ticket möglichst optimal auszunutzen. Dazu eine große Vatertagssause, die sicher auch zwischen 20 und 30 Gästen aus aller Herren und Damen Länder zu Besuch hatte? Ich kenne den Veranstalter und seine Feste. Und dann direkt zu mir, der ich mich als hochgradiger Risikopatient seit zwei Jahren im Haus isoliert habe? Ja, geht’s eigentlich noch?

Wäre das von einem Menschen gekommen, der, wie so ziemlich alle, gedanken- und rücksichtslos durchs Leben baselt, dann würde ich es zwar auch unmöglich finden, doch ich würde es verstehen; ich erwarte von den meisten Menschen nämlich gar nichts anderes. Aber von jemandem, der mir zwei Wochen zuvor die aktuellen Fallzahlen gemailt und sich über die Toten aufgeregt hatte, von jemandem, der es unmöglich fand, dass einigen Leuten die KULTUR wichtig war, von dem nun zu erleben, dass die Sauf-Kultur des Vatertages zum Anlass genommen wird, um durch 1.000 Kilometer Deutschland zu jodeln, das hätte ich nicht erwartet. Ich muss wohl unheilbar blöd sein. Oder dafür gehalten werden.

Ich hoffe, dass es Ihnen besser geht
und Sie glücklich bleiben
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker