Literatur

Was mich angeht

Samstag, 23. April 2022, bei Tchaikovskys Symphony No.6 in B Minor, Op. 74, „Pathétique“, mit den MusicAeterna unter Teodor Currentzis

In den vergangenen Monaten, massiv verstärkt seit dem Beginn des faschistischen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine, habe ich immer wieder darüber nachgedacht, ob ich nicht mit dem Schreiben aufhören sollte. Es schien mir, vor allem angesichts des Weltzustandes, gänzlich sinnlos, weiter Bücher zu schreiben.

Ich war mir gar sicher, dass ich, wäre ich nicht 72 sondern erst 50 oder von mir aus auch 60 Jahre alt, das Schreiben aus der Hand legen würde, um irgendwohin in die Welt zu gehen, nach Afrika vielleicht, um einer Umweltschutzbewegung beizutreten, die Aufforstungen zu befördern versucht etwa. Und ich fand es sogar ekelhaft und empörend, ich gestehe es, dass Kollegen von mir einfach weitermachten und Büchlein um Büchlein über irgendwelche Serienmörder produzierten, Kostümklamotten in Mittelalter-Kulissen aufführten oder Regionalkrimis, in denen mit einer Art Nichtsprache der letzte ausgedachte Mord in Hintertupf so mühsam wie phantasielos aufgeklärt wurde, dass man dabei einschlafen konnte. All diese sogenannten Bücher, für die literarische Müllhalde geschrieben, die gewissermaßen im Stundentakt als die letzten Offenbarungen angeboten werden, die in keiner Badetasche am Strand fehlen dürfen.

Ja, ich gebe es zu, es ekelte mich. Was soll man noch schreiben, mit diesen Nichtswürdigkeiten auf der einen und dem realen Mord und Totschlag auf der anderen Seite? Eingezwängt zwischen dem Unsinn des Buchmarktes, der schon längst nicht mehr weiß, was das Wort Literatur einmal bedeutet hat, und den widerlichen Lügen eines Massenmörders im Kreml, dessen Tun den Sinn des Lebens entwertet.

Gut – oder ungut -, das war zumindest in diesem Jahr bisher mein Gemütszustand. Bis gestern, muss ich jetzt sagen, vielleicht nur bis gestern, denn da wurde mir klar, was eigentlich immer hätte klar sein müssen. Nämlich, dass ich mein ganzes Leben hindurch immer nur das geschrieben hatte, was mich persönlich direkt anging. Meine Liebste hatte es im vergangenen Jahr sogar so formuliert, dass ich nie etwas anderes geschrieben hatte, als das, was mich selbst zutiefst erschüttert hatte. Und das stimmte, denn etwas anderes wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich hatte zwar, um Geld zu verdienen, hunderten von Möchtegernschreibern beigebracht, wie man funktionierende Krimis schreibt, aber mich selbst hatte ich nie schreibend in diese groteske Landschaft aus Rummelplatz und geistiger Einöde geschickt. Warum auch? Ich hatte ja etwas, das mich selbst wirklich anging.

Und jetzt? Ja, da entstand die Antwort ganz von allein. Denn wenn es mein Leben hindurch immer etwas gegeben hatte, was mich anging, dann konnte es ja nicht sein, dass es plötzlich nichts mehr gibt, was mich angeht. Putin hin oder her. Es gibt immer etwas, das mich angeht. Und, was fast erschreckend für mich war, als ich es gestern erkannte, es gibt vor allem so viel, das mich angeht, ohne dass ich bisher jemals darüber geschrieben habe.

Und wissen Sie was, es ist fast ein Witz, meine kleine gestrige Erkenntnis – ich nenne es mal hochtrabend so – wäre auch die Rettung für die Literatur und den Buchmarkt. Denn wenn jeder nur über das schriebe, was ihn wirklich angeht, dann verschwände diese ganze überflüssige Massenware, dieser Brei aus Genreliteratur mit einem Schlag von der Bildfläche. Niemand kann mir erzählen, dass die Produzent:Innen von so komplexen Fragen wie „werden die Orks gegen die Elfen gewinnen? Oder „wird Shakespeares bisher unbekannte Schwester doch noch glücklich werden?“ Oder „wird Kommissar Pumpelmann und sein ständig kaffeetrinkendes Team doch noch über den Dünenmörder stolpern?“ und immer so weiter und weiter und weiter ad infinitum. Kurz gesagt, niemand kann mir einreden, dass auch nur die Produzenten im Geringsten eine Notwendigkeit empfinden, diesen Quark zwischen zwei Buchdeckeln zu schreiben. Sie müssten sonst von einer besonderen Form des Irreseins befallen sein.

Darum Leute, wenn es Euch schon nicht interessiert, was ich denke, so rettet wenigstens die Literatur, indem ihr nur über das schreibt, was Euch wirklich angeht. Und falls einige von Euch, weil ihr diese Frage gar nicht beantworten könnt, mit dem Schreiben ganz aufhören, dann ist es auch gut.

Wie auch immer. Ich wünsche Euch,
dass Ihr glücklich bleibt
Euer PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker