Literatur

Über Krankheit schreiben?

Freitag, 5. November 2021, bei Sonnenschein im Garten und Verdis ‚Un Ballo in Maschera‘, in einer Aufnahme der Mailänder Treppe von 1956 unter Antonino Votto, mit der Callas als Amelia.
Wie werde ich aussehen im Winter? Entkleidet
der Worte und Gedanken, angekommen in der
ungeschönten Wahrheit meiner selbst, wenn es
einmal zu Ende geht? (Christian Lehnert)

Bei meiner Online-Lesung und dem anschließenden Werkstattgespräch mit Zoë Beck und Reimer Eilers am 28. Oktober kam auch das Thema Krankheit zur Sprache, da Eilers auf meinen Schlaganfall vom Februar 2019 hinweisen zu müssen meinte. Gut, ich hatte damit nicht gerechnet, ließ mich dann aber darauf ein und habe ganz offen geantwortet, dass mein ganzes Leben eigentlich von schwersten Krankheiten geprägt, behindert und durchdrungen worden ist, dass ich das Schreiben meiner Bücher eben auch gegen all diese Krankheiten habe durchsetzen müssen, bis zum heutigen Tag, da ich halbseitig gelähmt vor der Kamera sitze und nur noch drei Finger der linken Hand zum Schreiben nutzen kann. Ich sagte das so detailliert, um anschließend darauf hinzuweisen, dass all das aber nicht die Themen meiner Bücher seien. Ich bin zwar krank, schreibe aber nicht darüber, dass ich krank bin. Krankheit ist zwar auch einer der Widerstände meines Schreiben, wird dadurch aber nicht zum Ausgangspunkt meiner Literatur.

Ich schreibe das hier eigentlich nur, weil mir am Tag darauf prompt eine Leserin schrieb, das sei alles gar nicht wahr, denn die Krankheit wäre sehr wohl mein Thema, ich sollte mal meine Bücher anschauen usw. Ich war etwas konsterniert, ganz ehrlich, ich wusste gar nicht wovon die Frau sprach und habe ernsthaft nachgedacht, was sie meinen könne.

Irgendwann wurde mir dann klar, dass ich es mit dem schier blödsinnigen Umstand zu tun hatte, dass Leser, egal was man schreibt, quasi immer ihr ganz eigenes Buch lesen, alles auf sich beziehen und die Themen etc. derart persönlich gewichten, dass aus jedem Turm einer wird, der in Pisa stehen könnte.

Das war mir natürlich in meinem Schreiben von allem Anfang an passiert. Schon als ich meinen ersten Roman „Seelenlähmung“ veröffentliche, es ist inzwischen über 40 Jahre her, bekam ich Briefe von Leuten, die mir schrieben „naja, ich weiß ja, wie es wirklich gewesen ist“. Einer schrieb mir triumphierend „der Mann in der Straßenbahn bin ich“. Dabei kommt gar keine Straßenbahn im Buch vor. Solche Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Sie offenbaren vor allem zwei Dinge. Erstens, dass solche Leser gar nicht begreifen, was ein Roman eigentlich ist. Und dass es zweitens verheerend ist, wenn man auf Leser trifft, die, aus welchen Gründen und auf welcher schmalen Grundlage auch immer, dem Glauben anhängen, dass sie den Autor/die Autorin kennen.

Nehmen wir den aktuellen Fall, den ich für mich einigermaßen rekonstruieren konnte, weil mir klar wurde, auf welches Buch sich die Leserin bezog. Es war der Roman „Herz des Hais“. Im Werkstattgespräch hatte ich u.a. erwähnt, dass ich einen Krebs gehabt hatte. Tatsächlich war es ein schweres Nierenkarzinom von der Größe eines Fußballs, das ich letztlich überlebte, weil ich in die ärztlichen Hände meines kleinen Bruders F. geriet, eines sehr fähigen Onkologen und Hämatologen. Das ist meine persönliche Erfahrung mit dem Thema Krebs. Habe ich darüber jemals geschrieben? Nein, mit keinem Wort.

Mein Roman „Herz des Hais“ handelt von der Familiengeschichte zweier Schwestern, die sich nach Jahren der Trennung wieder einander annähern müssen, weil die eine an Brustkrebs erkrankt ist und weiß, dass sie in wenigen Monaten sterben wird. Sie hat die Schwester als die Erbin ihres künstlerischen Nachlasses eingesetzt. Das ist der Sachverhalt. Außer der Tatsache, dass ich kein Idiot bin und über Krebs geschrieben hätte, ohne zu wissen, was das ist, hat es nichts miteinander zu tun. Der Brustkrebs der einen Schwester ist auch nichtmal das Thema des Buches. Er ist lediglich der Anlass, der die Schwestern wieder zusammenbringt. Ansonsten geht es im Roman um die ganze gemeinsame Lebensgeschichte der beiden Protagonistinnen. Für die Leserin war das alles auf die schmale Gleichung 2 x Krebs zusammengeschnurrt, als sie mir schrieb.

Mit dem gleichen Recht könnte jemand kommen und den Umstand, dass in dem Buch ein Testament eine Rolle spielt, darauf zurückführen, dass ich in diesem Monat mit dem Testament meines Bruders zu tun hatte, der im August verstorben ist. Und wenn ich das abstreite, dann wird mir vermutlich nicht mal nützen, dass ich über das Testament der Schwestern schon vor Jahren schrieb, während das meines Bruders mich erst vor einer Woche beschäftigt hat. Abgekupfert ist abgekupfert wird mir demnächst irgendein Besserwisser zurufe. „Ich weiß ja zum Glück, wie es wirklich gewesen ist.“

Liebe Leute, mein Thema ist die ganze Welt, die Geschichte, der Krieg, der Faschismus, mein Thema sind die menschlichen Lebensverhältnisse, sind Vertrauen und Verrat, Liebe und Einsamkeit, das Leben und der Tod. Und kein einziger von Euch, keine einzelne Person und kein einziges von euren privaten Schicksalen, ob ihr nun Straßenbahn gefahren seid oder nicht, würde jemals ausreichen, um daraus einen Roman zu machen. Selbst wenn ihr in einem meiner Bücher einen Satz wiederzuerkennen glaubt, der von euch stammt – niemand hat das Eigentumsrecht an einem Satz – dann wäre bestenfalls dieser eine Satz von euch. Und ich habe den vollständigen Kosmos des ganzen Romans um diesen Satz herum geschaffen, und darin euren kleinen Satz eingepasst und Sinn gegeben. Sonst nichts. Schreibt euch das hinter die Ohren, bevor ihr mal wieder eine Gleichung zwischen meinen Romanen und meinem oder Eurem Leben aufstellen wollt. Niemand kennt den Ort in meinem Herzen, von dem aus ich schreibe.

Und ja, wenn es mal wirklich um mich geht, dann verrate ich euch das. So, wie ich es in „Ein paar Dinge, die ich von mir, meinen Eltern und Auschwitz weiß“ tue. Aber dort werdet ihr es gar nicht wissen wollen. Das weiß ich schon jetzt.

Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker