Literatur

Strange Days – oder Entwicklung auf Raten

Mittwoch, 13. Oktober 2021, bei ‚Strange days‘ von den Doors
Nun geht es in einen klaren Herbst.
Wie viele hast du? Dies ist einer davon.
Kurt Tucholsky

Der diesjährige Herbst scheint einige Dinge zusammenzuführen und Entwicklungen zu begünstigen, die zum Teil jahrelang – aber ist das nicht immer so? – nicht von der Stelle zu kommen schienen. Eine kurze Auflistung, die mir den Druck von der Seele nehmen soll, verzeichnet die bevorstehende Publikation meines Rom-Buches „Kein Jahr der Liebe – Römische Notizen aus der Villa Massimo 1989 – Eine Auslöschung“, ein Buch das, abgesehen von Vor- und Nachwort, 32 Jahren auf diesen Herbst gewartet hat. Nun sind mir für den Nachmittag vom Verlag die ersten Cover-Entwürfe angekündigt, für die der Wiener Maler Ludwig Mag Drahosch eine altmeisterliche Bleistiftzeichnung beigesteuert hat.

Zweitens sah dieser Herbst bereits den Abschluss des biografischen Romans „Ein paar Dinge, die ich von mir, meinen Eltern und Auschwitz weiß“, ein Buch, für das ich – zwar nicht schreibend, doch lebend und erfahrend – meine ganze Lebenszeit benötigt habe. Ein Erfahrungsbericht, der vor allem die ungewöhnliche Form des Buches beleuchtet, ist zudem geschrieben und erscheint in der Dezember-Nummer der Lit-Zeitschrift eXperimenta, in der vor genau zehn Jahren bereits die Erstveröffentlichung meiner Erzählung „Der Schatten Gottes“ erfolgte.

Auf die dritte Frucht dieses Herbstes habe ich seit dem Winter 2018 gewartet. Es ist der Nachlass zu Louis-Ferdinand Céline, den der Freiburger Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Klaus Theweleit mir überlassen hat. Natürlich geht auch diese Geschichte noch viel weiter zurück, habe ich mich doch seit ich überhaupt schreibe mit dem Faschismus beschäftigt. Ab den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstärkt zugespitzt auf die Frage, wie es geschehen konnte, dass so viele Intellektuelle, Künstler, Philosophen und Autoren der europäischen Moderne anfällig für faschistisches Denken und den Antisemitismus waren. Es war für mich immer das große work in progress, das im Hintergrund meines gesamten Schreibens lebte und wuchs, sehe ich doch nach wie vor im europäischen Faschismus, gipfelnd in der Shoah, die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Deren Schatten uns übrigens inzwischen wieder einzuholen beginnt. Ach, was rede ich, er war ja nie fort.

Zu den wesentlichen Arbeiten auf diesem Gebiet gehörten, und sicher nicht nur für mich, seit den 80er Jahren die ungewöhnlichen Bücher Klaus Theweleits, mit denen er auch die Grenzen des akademischen Diskurses sprengte. Beginnend mit den „Männerphantasien“, die den Weg zum Faschismus nicht nur historisch in den Blick nahmen, sondern auch ein psychisches Entwicklungsmodell anbot, das es gestattete, die Protagonisten von Innen her zu analysieren.

Unter seinen Bücher besonders fasziniert hatte mich immer seine umfangreiche Studie „Buch der Könige“, dessen verschiedenen Teile über viele Jahre erschienen, 1988 bis 1994. Es wirkt fast ignorant, wenn man diese an Material und Geist so überreichen Bücher inhaltlich zusammenzufassen versucht, aber es trifft wohl einigermaßen, wenn man es als die größte Studien über das Geschlechterverhältnis in der Kunstproduktion – was natürlich auch immer Machtverhältnis meint – bezeichnet.

In diesen Arbeiten über verschiedenste Künstler, seit der Renaissance bis in die Zeit des 2. Weltkrieges, fehlte eine, die Klaus Theweleit über Jahre zwar immer wieder neu angekündigt, doch nie publiziert hatte. Es war die über den Erz-Antisemiten Céline, den wohl größten Spracherneuerer der französischen Literatur im 20. Jahrhundert. 2018 setzte ich mich deshalb mit Theweleit in Verbindung, nachdem ich gerade Philippe Murays biografischen Versuch über Céline gelesen und mich entschieden hatte, meine Studie über den Faschismus in der europäischen literarischen Moderne mit einem einleitenden Band über Céline zu beginnen.

Im Grunde hatte ich nur wissen wollen, ob es das Buch doch irgendwo gäbe und ich es übersehen hatte oder es noch zur Veröffentlichung vorgesehen sei. Beides verneinte Klaus Theweleit. Und obwohl ich gar keine weitere Antwort erwartet hatte, entwickelte sich ein kleines Gespräch. Zuerst über meine Motive, mich mit dem Stoff zu beschäftigen, dann auch über biographische Hintergründe und Zusammenhänge, wobei wir Parallelen im Lebensweg, seinem und meinem, erkannten. Ich schickte ihm auch einige meiner Romane. Das Ergebnis war letztlich, dass sich der Grund für das Nichterscheinen des Céline-Teils in seinem „Buch der Könige“ herausstellte. Er hatte die Arbeit daran an seinen Freund und Mitarbeiter L. delegiert gehabt. Leider habe L. die Tendenz gehabt, aus dieser Zuarbeit ein Lebenswerk zu machen und sei dann zu allem Unglück darüber auch noch gestorben. Ls Céline-Nachlass stehe in sieben Umzugskisten in seiner Garage. Ich könne ihn mitsamt den Rechten daran übernehmen, wenn ich wolle.

Das hat mir naturgemäß erst mal die Sprache verschlagen. Ich erbat mir Bedenkzeit, sprach mit dem Vorstand meines Verlages und nahm letztlich an. Darüber war es Winter geworden, sodass wir die weite Fahrt für den Transport nicht riskieren mochten. Wir verabredeten uns für das kommende Frühjahr. Okay. Anfang Februar 2019 hatte ich dann einen Schlaganfall und musste Klaus Theweleit absagen. Damit wäre das Projekt im Grunde begraben gewesen, wenn ich den Schlaganfall nicht wider Erwarten überlebt hätte. Das war der erste glückliche Umstand, der zweite war der Umzug meines Verlages nach Freiburg, sodass der Céline-Nachlass lediglich noch innerhalb der Stadt von Theweleit ins Verlagsarchiv wandern musste. Dort liegt seither alles und wartet darauf, dass meine Liebste es für mich am Freitag abholt. Sie hat sogar schon damit begonnen, mir im Keller einen separaten Arbeitsplatz einzurichten.

Computer und Scanner werden noch hinzukommen, Regale etc., dann werde ich sichten, was L. über den Faschismus Célines herausgefunden hat. Und vielleicht wird es dann mein Projekt für die nächsten Jahre werden.

Insgesamt ist die Publikationslage dafür günstig. Nicht nur sind in diesem Jahr wesentliche Werke von Klaus Theweleit neu aufgelegt worden. So die „Männerphantasien“ und das Jahrhundertwerk „Buch der Königstöchter“. Der große 4 bändige Pocahontas-Komplex. Vor allem hat sich in diesem Sommer auch der wichtigste Fund der neueren französischen Literaturgeschichte ereignet, denn tausende bisher unbekannte Manuskriptseiten, die ihm nach Célines Worten „geraubt“ worden waren, sind wieder aufgetaucht. „Der Schatz des Kollaborateurs“ wie die FAZ titelte. Mit einer Neu-Edition all seiner Werke darf wohl gerechnet werden. So bleibt uns das größte Ekel der europäischen Literatur noch länger erhalten. Also schaun wir mal. Was ich im Nachlass finde, werde ich berichten.

Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker