Literatur

Synchron oder diachron leben?

Samstag, 29. Mai 2021, bei ‚The Personal Gallery‘ von Ketil Bjørnstad

Vielleicht liegt es ja einfach nur an meinem Alter. Und daran, dass ich das Alter all dessen bemerke, womit ich mich beschäftige. Selbst dann, wenn ich meine, dass etwas neu sei, stelle ich fest, dass es tatsächlich schon alt ist. Neu war es nur für mich. Simples Beispiel wäre der Norwegische Komponist und Musiker Ketil Bjørnstad, dessen Jazz ich seit einigen Wochen morgens gern auf Spotify höre. Ich hatte ihn von der Musik her etwa zwischen vierzig und fünfzig eingeordnet und musste dann feststellen, dass diese für mich neue Musik von einem Mann gemacht wurde, der wie ich im siebten Lebensjahrzehnt steht; er ist knapp zwei Jahre jünger als ich und noch dazu ein Autor von vielen Romanen. Überflüssig zu sagen, dass ich auf der anderen Seite von der Musik, die tatsächlich junge Leute hören, etwa die Schüler meiner Frau an der Schauspielschule, gar nichts kenne. Oder die Musiker, die auf dem Eurovision Song Contest in diesem Monat aufgetreten sind.

Aber ich denke, es geht doch noch um etwas Anderes. Es fiel mir auf, als ich mich mit Ferdinand de Saussure, dem Vater der Theorie der Zeichen (Semiologie), beschäftigte. Das ist schon etwas her, doch hatte ich damals nicht begriffen, was das für mich selbst, mein Leben und meine Arbeit bedeutet. Nun, schauen wir mal. Saussure handelt natürlich nur von Sprache, und ich will darüber gar nicht viel erzählen, nur den Umstand, dass er recht strikt eine synchrone Betrachtungsweise der Sprache verlangte und die Diachronie ablehnte. Das bedeutet für die Sprachwissenschaften einfach nur, dass es ihm nicht um die Beschreibung dessen ging, was die Sprache im Wandel der Zeit durchgemacht hat (dia=durch / chronos=Zeit), nicht um die geschichtliche Entwicklung also, etwa vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen, sondern um die Beschreibung der Merkmale, die zu einem gemeinsamen Zeitpunkt vorhanden sind. Was sind also etwa die Strukturen des Systems Sprache jetzt.

Ich hoffe, ich langweile niemanden. Jetzt kommt nämlich die Anwendung auf das Leben, auch wenn das schwer glaubhaft scheint. Mir ist das erst klar geworden, als ich die Sausurreschen Begrifflichkeiten mal aus dem Zusammenhang der Sprachwissenschaften herausgenommen habe. Man muss einfach mal die Umgebung verändern, z.B. eine Wasserpumpenzange auf eine Sahnetorte legen, und natürlich schauen, was dann passiert. Was geschieht also, wenn man die Synchronizität und die Diachronie auf das Leben anwendet?

Nun, man stellt fest, dass die synchrone Betrachtungsweise mehr oder weniger dem Alltagsleben entspricht. Also, den täglichen, oft wiederholten, also eingeübten Strukturen, die zum direkten Überleben und Ordnen unseres Nahbereiches notwendig sind. Klar, wer seinen synchronen Bereich nicht im Blick hat, der verliert vielleicht den Haustürschlüssel, kommt zu spät zum Essen, zieht verschiedenfarbige Socken an, macht die Nacht zum Tag, arbeitet also, wenn andere schlafen und immer so weiter. Am Ende haben solche Leute nicht genug in die Rentenversicherung eingezahlt und leben in prekären Verhältnissen.

Jetzt bemerken Sie vermutlich schon was? Oder? Das sind doch all die unangenehmen Eigenschaften von zerstreuten Professoren und sogenannten Künstlern, die ständig die Norm unterlaufen. Und die diachrone Betrachtungsweise? Na, die braucht man ständig, wenn man künstlerisch arbeitet. Schreibt man etwa eine Geschichte, so steckt die Diachronie schon im Wort. Eine Geschichte ist nämlich realisierte Diachronie. In einer Geschichte passiert nicht einfach etwas. Alles was passiert, passiert nämlich nur, weil vorher etwas anderes passiert ist. Alles, was passiert, hat also Ursachen in der Geschichte, und Folgen natürlich auch. Und davon erzählt die Geschichte, immer.

Und für die Menschen heißt das, dass so jemand wie ich, weil er ständig Geschichten erzählt, hauptsächlich diachron denkt, während er mit dem Rest seiner Umgebung – Schwiegermütter, Postboten, Geschwister, die auf der Sparkasse arbeiten, grillende Nachbarn, ach, Sie wissen schon …. niemals lange genug synchron sein kann, um nicht unangenehm aufzufallen. Ein lebenslanges Siechtum ist die Folge, wenn man nicht wie ich das unverdiente Glück hat, eine Liebste getroffen zu haben, die ebenso diachron denkt wie ich selbst. Für alles andere gibt es Steuerberater.

Egal ob Sie Ihre Zeit synchron oder diachron hinbringen
Bleiben Sie glücklich, wünscht
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker