Traumwanderung nach Tarent – ein Dichter stirbt
Samstag, 6. März 2021, bei J.S. Bach – selected elements – dem sampler von David Ramirer
Ich frage mich, wie Bach selbst die ‚Einspielungen‘ von David Ramirer empfinden würde. Er, der seine Musik – obwohl er der Ökonomie ganz ebenso ausgeliefert war, wie alle anderen Künstler – zur höheren Ehre Gottes komponierte, hätte möglicherweise eine große Freude daran gehabt, sind die Aufnahmen doch frei von allen Eigenarten und Unzulänglichkeiten menschlicher Aufführungspraxis, gleichsam, als seien sie im Himmel eingespielt worden – vielleicht von einem eigens von Gott geschaffenen Musik-Engel, der den Namen eines Computers trägt.
Am Morgen erwachte ich mit dem Gedanken, was für großartige Taten mir mein Unterbewusstsein, wenn schon nicht zutraut, so doch nahelegt. Ich war nämlich im Traum von der Ostseeküste aus nach Italien gewandert, in weiten Tagesetappen von jeweils mehr als 200 Kilometern, durch Deutschland, über die Alpen, dann den ganzen Stiefel hinunter – wobei ich auch immer wieder große Landkarten vor meinem Blick ausgebreitet sah – ohne in Rom Halt zu machen, weit und weiter in den Süden, bis in den Absatz des Stiefels hinein, ja, bis ich erstaunlicherweise in Tarent ankam; ausgerechnet in Tarent, das Pyrrhus so erfolglos verteidigt hatte.
Einen Reim darauf zu machen versuchte ich mir ganz banal zuerst dadurch, dass mir einfiel, was ich mir am Abend zuvor als Ziel gesetzt hatte, nämlich ab heute mein Körpertraining so zu intensivieren, dass ich bis zum Jahresschluss wieder ohne Gehhilfe laufen kann. Prima, mein Unterbewusstsein schien das begrüßt zu haben, auch wenn die Riesenschritte von täglich über 200 Kilometern natürlich reichlich übertrieben waren.
Dann ging ich die einzelnen Stationen – oder sagen wir ‚Daten‘ – des Traums durch. Dass ich an der Ostseeküste gestartet war, schien verständlich. Ich war ja schließlich dort geboren, also ein Kind der Ostsee. Aber es kam hinzu, dass es mit meiner Gehfähigkeit und der Ostsee noch eine zweite Bewandtnis hatte, denn immerhin hatte ich nach der Operation meines Nierenkarzinoms zu Ostern, im Sommer 2001 am Strand von Rostock-Warnemünde wieder das Laufen gelernt. Okay, ein passender Ort für einen neuen Aufbruch. Ja, möglicherweise, zumal Johann Gottfried Seume 1802 seine berühmte Spaziergangs-Erzählung veröffentlicht hatte. Auch so ein Italien-Spaziergänger, der von Rostock aufgebrochen war. Aber hier, spätestens, begann die ganze Traumkonstruktion zu quietschen. Seumes Spaziergang hatte von Rostock nach Syrakus geführt, warum führte der meine ausgerechnet nach Tarent?
Tatsächlich kenne ich Tarent nicht, bin niemals dort gewesen, noch wüsste ich irgendeinen literarischen Zusammenhang, in dem die Stadt auftaucht bzw. eine Rolle spielt. Was wollte mir mein Unterbewusstsein damit sagen? Und dann streifte mich ein Gedanke, es war kaum mehr als eine Ahnung, die mich zum Bücherregal und nach Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ greifen ließ. Hatte ich vielleicht übersehen oder vergessen, dass das Schiff, mit dem Vergil nach Italien zurückkehrt, an Tarent vorbeifährt? Mare Tyrrhenum, Mare Adriaticum, Ionisches Meer, wie verhielt sich das nochmal genau?
Ich las den vielgelesenen Anfang des Buches erneut. Aber da war kein Tarent. Vergil, der arme kranke Vergil fuhr nach Brundisium, das war mir eigentlich klar gewesen. Aber das antike Brundisium war das heutige Brindisi. Und wo liegt Brindisi? Jetzt hatte ich es, denn Brindisi liegt ebenso wie Tarent etwa auf Höhe des Absatzes des italienischen Stiefels, einander quasi gegenüber, Brindisi rechts, auf der Seite der Adria, Tarent links, auf der Seite des Ionischen Meeres.
Also hatte mich meine Traumwanderung an einen Ort gebracht, dem gegenüber der Ort liegt, an den Vergil zum Sterben befördert wurde. Und ich Esel war diesem Endpunkt mit riesigen Schritten zugeeilt. Nun, ich werde abwarten müssen, was das Jahr noch bringt.