Literatur

Meine Nächte mit Orion, dem himmlischen Jäger

Montag, den 07. Dezember 2020, bei ‚Le Nozze di Figaro‘ unter Karajan, mit den Wienern und Elisabeth Schwarzkopf
Orion constellation

Nimmt man es genau, so werde ich wohl seit einiger Zeit von „O r i o n“ verfolgt. In meiner langen Erzählung „Er kommt erst am Abend zurück“, dem Haupttext in meinem Erzählband „Isoldes Liebhaber“ tritt Orion als weibliche Hauptfigur auf (als habe er sich mit Artemis vereinigt), die, wie sich herausstellt, auf der Jagd nach einem recht gefährlichen Wild ist und es am Ende auch zur Strecke bringt.

Dann in meinem Roman „Nichts weißt du, mein Bruder, von der Nacht“, der gerade in diesen Tagen in Satz gegangen ist und im Januar erscheinen soll – für den Leipziger Buchpreis im Frühjahr wurde er bereits eingereicht -, ist Franz Gabriel, die Hauptperson, am Ende allein in der Nacht, steht unter dem Wintersternbild und muss sich entscheiden, ein neues Leben zu beginnen. Das Cover für das Buch wird vermutlich solch einen Himmelsausschnitt zeigen, mit dem Orion in der Mitte.

Und drittens lese ich seit zwei Wochen, jeweils in der Nacht vor dem Zubettgehen, wenn der Orion über dem Haus steht und mir ins Fenster des Arbeitszimmers schaut, in Roberto Calassos wunderbaren Buch „Der himmlische Jäger“.

Ich lese die Bücher Roberto Calassos seit vielen Jahren, genau genommen, seit mein Bruder Dieter mir Calassos „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“ schenkte. „Der himmlische Jäger“ ist der achte Band von Calassos großem „work in progress“, das 1983 mit „Der Untergang von Kasch“ begann, worüber ich hier zu Beginn des Jahres bereits eine Kleinigkeit geschrieben habe. Es folgten „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“, dann „Ka“, hernach „K.“, sein Buch über Kafka, „Das Rosa Tiepolos“, „Der Traum Baudelaires“ und „Die Glut“ über das vedische Indien. Anschließend als achtes das Orien-Buch, an dem ich gerade bin. Das neunte ist auch bereits erschienen, es heißt „Das unnennbare Heute“. Zudem gibt es den Band „Die Literatur und die Götter“, den man gewissermaßen als den Band Null betrachten kann.

Ich weiß, das überfordert alles und alle, doch wenn Sie sich für Literatur interessieren – nicht für den letzten Gelsenkirchen-Süd Krimi -, für Literatur, was sie ist, woher sie kommt, was sie bewirkt, was sie gar mit unserer Menschwerdung zu tun hat, mit der höchst erstaunlichen Tatsache, dass wir die einzigen Tiere auf diesem Planeten sind, die Geschichten erzählen, wenn Sie das irgendwie berührt – wenn es das tut, dann werden Sie es spüren, jetzt, direkt, in Ihrem Körper, in Ihren Zellen wird sich etwas regen – dann lesen Sie Calasso. Wenn nicht, wenn Sie jetzt in sich hinein horchen, auf der Suche nach dem Funken der lebendigen Literatur, der Stimme der Götter, wenn da nichts ist – alles tot -, dann sparen Sie sich das Geld. Aber naja, man kann nie wissen, unter so manchem Aschehaufen glimmt mitunter etwas, das sich zu einem großen Feuer entfachen lässt. Seien Sie also vorsichtig.

Mein Bruder Dieter hatte, als er mir „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“ schenkte, freilich, wie meistens, noch eine ganz andere Absicht. Er wollte seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, nämlich mich zu korrigieren. Ich hatte damals gerade mit meinem Philosophiestudium begonnen. Irgendwann muss ich in seiner Gegenwart etwas zu laut die philosophische Naivität nachgeplappert haben, dass der Mythos als Welterklärung im klassischen Griechenland von der Philosophie abgelöst worden sei und der Ratio Platz gemacht habe. Ich gebe zu, dass ich damals eigentlich schon zu alt war für solche Erstsemester-Weisheiten, aber es war mir sehr um Rationalität zu tun, um Wissenschaftlichkeit, um Fortschritt gar. Während Dieter längst müde war von solch einem Gerede, weil er wusste, dass der Mythos niemals abgelöst worden war, und dass das so wenig möglich wie wünschenswert war. Also ließ er mich Calasso lesen. Und natürlich wusste er, was er damit anrichten würde.

Nun gut, so ist das halt mit Brüdern. Falls Sie keine haben, so werden Sie nicht wissen, was ich meine. Falls Sie welche haben, so ist jedes weitere Wort überflüssig.

Aber bleiben Sie auf jeden Fall glücklich
wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker