Literatur

Aus der Welt gefallen? Sicher, doch wen interessiert die sogenannte „Welt“

Montag, 09. November 2020, bei LIGHT REFLECTION von Thomas Bruttger und dem Ensemble Aventure

Als erster Meldung auf Facebook begegnete mir heute die Mitteilung eines alten Kontaktes: „Ich habe noch nie einen so guten TATORT gesehen!“, darunter schon drei Dutzend Kommentare, die das bestätigten (vielleicht dem auch widersprachen – ich hab nicht nachgelesen). Nun gut, dachte ich und wollte weiterklicken, überlegte dann aber doch, was meine Erinnerungsspeicher bezüglich TATORT melden würden. Aber da kam nichts, da ist bis zu diesem Moment, da ich darüber schreibe, nichts aufgetaucht. Ich glaube also, mit einiger Berechtigung, dass ich wohl nie einen Film dieses Formats angesehen habe – falls doch, so hat er absolut keine Erinnerungsspur bei mir hinterlassen.

Als ich bei dem Begriff ‚Erinnerungsspur‘ ankam, lugte mein vor ewigen Zeiten geschriebenes Gedicht „De memoria“ so spitzbübisch um die Ecke, als habe es dort auf seinen Auftritt gelauert. Also lasse ich es hier auftreten:

De memoria

Wenn das Bewusstsein einmal
mehr als die 140 Bit enthält, die uns
die Informationstechnologie für unser
Kurzzeitgedächtnis zugesteht, was
wissen wir dann? Sind wir nicht alle
Inseln im Strom der Wahrnehmung?

Und des Vergessens, eingerahmt
von einem Vorher und Nachher, das
nur dann einen Sinn macht, wenn
wir selbst diesen Sinn behaupten?
Aber wir wollen ja, dass Wahrheit sei
und finden uns mit der Lüge leicht ab.

Einmal, vor mehr als vierzig Jahren
saß ich auf einer grünen Bank
die an einem Waldsaum in einem
deutschen Mittelgebirge stand
und küsste die Brüste eines jungen
Mädchens, das darüber ebenso

erschrocken und entzückt war, wie ich.
Wenn ich mich zu erinnern versuche
so kommt es mir vor, als habe ich ihren
Namen nie gekannt. Aber das, was ich
durch sie verstanden habe, lässt mich
heute noch unruhig werden. Wie viel
Bit braucht es für diese Gedächtnisspur?

Die Brüste dieser Schönen tauchten also aus der Vergangenheit auf, ein TATORT immer noch nicht. Nun war das aber für mich durchaus kein Grund für die Vermutung, aus der Welt gefallen zu sein, wie der Titel dieses BLOG-Beitrages sagt. Die kam mir erst, als ich mich an das Frühstücksgespräch mit der Liebsten erinnerte. LeserInnen dieses BLOGS wissen, dass die Liebste und ich zu den seltenen Exemplaren der Gattung gehören, die ständig miteinander im Gespräch sind.

Woran denkst du? fragte sie. Und ich antwortete, zugegeben etwas zögerlich, weil ich sogleich überlegte, wie ich den Zusammenhang (Odyssee/Auerbach/Schmidt/Damenfahrrad in Schwarze Spiegel usw.) halbwegs knapp und trotzdem plausibel erklären könne: Ich plane, ob ich nicht einen kleinen Text über das Epische bei Homer schreiben soll.

Ich wollte bereits fortfahren und das erläutern, was Goethe und Schiller das ‚retardierende Element‘ genannt hatten, als sie sagte. Ja, das ist der Unterschied. Ich überlege, dass ich den Müll rausbringen muss und wie ich beim NETTO einkaufen kann, ohne zu vielen Leuten zu begegnen, und du schreibst schon beim Frühstück im Kopf über das Epische bei Homer. Wumm! Da war ich dann aus der Welt gefallen. Jetzt wissen Sie es. Und da bleibe ich heute auch.

Bleiben Sie in der Welt, von mir aus auch im letzten TATORT,
und, vor allem, bleiben Sie
dabei glücklich, wünscht Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker