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Die Nachrangigkeit des Plots – oder die Form interessiert den Leser nur, wenn sie ihn stört

Montag, 11. Oktober 2021, bei ‚Don Giovanni‘ von Giuseppe Gazzaniga

Was mir immer und seit gestern mal wieder verstärkt durch den Kopf geht, das ist das, was ich im Titel so spröde als Nachrangigkeit des Plots bezeichnet habe. Zuletzt angeheizt von der Notwendigkeit, für den im August 2020 erscheinenden Band mit Erzählungen „Isoldes Liebhaber“ Begleittexte zu erstellen, also für die Presse, die Webseite des Verlages, die Klappentexte des Buches selbst, den ‚blurb‚, wie man im Englischen sagt, ist mir wieder das Missverhältnis bewusst geworden, das zwischen der Forderung des Lesers, über den Inhalt, den Plot, die Story informiert zu werden, und der Mühe, die Autoren an die Konstruktion, den Aufbau, die Struktur wenden, besteht.

Diese Differenz ist bei manchen meiner Bücher so groß, dass ich sagen würde, es ist in erster Linie nie um den Inhalt gegangen. Dabei ist das ja im Grunde ein uralter Hut, der nämlich von „Form und Inhalt“. Im 20. Jahrhundert hat man darüber noch große Debatten abgehalten. Das wäre heute ganz unmöglich, denn solche Themen haben nicht mehr den geringsten Stellenwert, so wie auch das, was im 20. Jahrhundert überhaupt als Literatur galt, kaum noch vorkommt. Dort, wo es noch Literatur gibt, die die Kriterien der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts erfüllen könnte, führt sie ein Nischendasein. Und wer sich zu ihr bekennt, der macht sich schlicht lächerlich.

Aber das Problem bleibt natürlich bestehen. Der Inhalt, das WAS, das erzählt werden soll und was den Leser bestenfalls als einziges interessiert, verlangt zuerst stets die Beantwortung der Frage nach dem WIE. Davor steht man als Autor, diese Frage nach dem WIE, nach der Form des zu schreibenden Buches, muss der Autor beantworten, bevor er auch nur einen Satz über das WAS niederschreiben kann. Wenn man die richtige Form nicht findet, dann kann man das Buch gar nicht schreiben. (Ich rede hier nicht von den nach Schablone produzierten Regional-Krimis der gegenwärtigen Tagesproduktion, die ich selbst für leider viel zu viele Jahre unterrichtet habe.) Für den Autor, der sich dieser Tatsache bewusst ist, kommt die Form immer zuerst; der Plot der Geschichte, der Inhalt ist nachrangig.

Nun kann man sich vielleicht vorstellen, dass etwa bei einem Buch, das auf mehreren historischen Zeitebenen spielt, dabei die Jahre 1945 bis 2000 umfasst und seine Figuren zudem in mehreren ganz verschiedenen Ländern auftreten lässt, ganz andere Lösungen gefunden werden müssen, als etwa bei einem, das innerhalb einer knappen Woche handelt und dabei etwa ein Dutzend Protagonisten hat, die sich teilweise gegenseitig nicht mal kennen oder auch nur begegnen, aber trotzdem eine zusammenhängende Handlung bzw. Geschichte ergeben sollen. Der erstere Fall entspricht dem dritten Band meiner Deutschland-Trilogie, also dem Venedig-Roman „Calvinos Hotel„. Der zweite Fall liegt mit meinem Brasilien-Roman „Der Mann, der den Regen fotografierte“ vor. Und so ist es mit allen meinen Büchern. Alle haben von der Erzählform her, und das heißt bei mir eben auch immer von der zeitlichen Konstruktion, eine ganz neue eigene Lösung verlangt.

Der Leser nimmt so etwas so wenig wahr, wie er die sprachlich Gestaltung eines Textes von einem anderen zu unterscheiden vermag. Lediglich dann, wenn ihm etwas irgendwie zu schwierig erscheint, stockt er, fühlt sich überfordert, denkt, was ist denn das für ein blödes Buch und bricht die Lektüre ab.

Das ist ein Ergebnis dessen, dass man nur noch zur Unterhaltung liest. Große Literatur geschweige denn Kunst kann für solche Leser gar nicht entstehen.

Bis zu diesem Punkt

hatte ich den obigen Text am 28. Juli 2020 geschrieben. Ich ließ ihn dann unabgeschlossen liegen, weil ich dachte, das interessiert eh niemanden, vom Verstehen mal ganz zu schweigen, und im Grunde wollte ich ihn löschen, hätte es beinahe auch getan. Dass ich heute darauf zurückkomme, liegt an meinem neuen Roman bzw. meinem in der vergangenen Woche abgeschlossenen Manuskript „Ein paar Dinge, die ich von mir meinen Eltern und Auschwitz weiß“.

Zu diesem Buch, das erst im kommenden Frühjahr erscheinen soll, habe ich im Nachgang einen begleitenden Essay für die Lit-Zeitschrift eXperimenta geschrieben, der im Dezember erscheinen soll. Es sind quasi erläuternde Bemerkungen zu einem unschreibbaren Roman. Warum unschreibbar? Weil er für mich auf extreme Weise das Problem von Form und Inhalt aktualisiert hat, das ich 2020 in der obigen Einleitung dieses BLOG-Beitrags zu skizzieren versucht habe und dann liegen ließ. Und dabei verschärfte sich das Problem nochmals zusätzlich dadurch, dass ich es zuerst nur im Rahmen fiktionaler Texte formuliert hatte, während es sich im Gogolin/Auschwitz-Buch für einen Text lösen lassen musste, der gleichzeitig biografische Realität UND Fiktion benutzte. Und zwar offen, nicht irgendwie verdeckt.

Mir ist natürlich klar, dass Leser auch in diesem Fall ganz zuerst und einzig wissen wollen, was denn der Gogolin bzw. seine Eltern mit Auschwitz zu schaffen haben, also den Inhalt im Blick haben und erfahren möchten, was für Sauereien da vielleicht zum Vorschein kommen werden. Schon gar nicht interessiert sie, welche Formprobleme ich zu bewältigen hatte, um das Buch überhaupt schreiben zu können. Und ich hätte gern, wenn es möglich gewesen wäre, den alten Trick des unsichtbaren Erzählers benutzt, sprich, für die Leser das Haus des Buches erbaut und mich selbst bei Schlüsselübergabe aus diesem Haus zurückgezogen, als sei es irgendwie fertig vom Himmel gefallen oder auf dem Baum der Bücher gewachsen. Aber diesmal ist das eine ohne das andere nicht zu haben. Besser, Sie bereiten sich darauf vor und

bleiben trotzdem glücklich
das wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker