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Die Grundbedingung des Freiseins – und damit der menschlichen Würde

Mein Interview mit Anton Schmitt vom ‚collegium philosophicum‘

PHG: Lieber Anton, es freut mich, dass Du bereit warst, Dich von mir für das Interkulturelle Netzwerk für Hochbegabte interviewen zu lassen.

A.S. Ich habe mich gerne darauf eingelassen, ein solches Interview mit Dir zu führen, möchte jedoch gleich unmißverständlich klarstellen, daß es mir dabei in keiner Weise um eine auch nur irgendwie geartete „Beweihräucherung“ meiner Person geht. Ich verstehe meine Einlassungen hier deshalb ausschließlich als „Rechenschaftsbericht“ mir selbst gegenüber. Demzufolge äußere ich mich hier ganz genau so, wie ich es mir selbst gegenüber tue. Es handelt sich also nur um eine Art „lauteres“ Selbst-Bedenken, das als solches gerne auch als Beispiel für Andere dienlich sein kann und mag.

PHG: Du hast einmal gesagt, es sei Dir schon mit 14 Jahren klar gewesen, dass Du Philosophie studieren wolltest. Am Albertus Magnus Gymnasium, benannt nach dem Doctor universalis des Dominikanerordens, der dem Mittelalter die Schriften des Aristoteles übersetzte, hast Du dann das Abitur gemacht, um anschließend in München an der Jesuiten Hochschule Philosophie zu studieren. Wie kam es, dass Du so früh um diesen Weg für Dich wusstest? Und welche Rolle hat in diesem ungewöhnlichen Werdegang und dann später in Deinem Leben das Thema »Begabung« gespielt?

A.S. “Begabung“ – darum wußte ich gar nichts! Erst aus dem nun schon fast ein ganzes Leben überschauendem Rückblick, vermag ich mit diesem Begriff etwas zu assoziieren. (Wobei ich gleich als Resultat solcher Besinnung vorauszuschicken habe: Meine einzige „Größe“ besteht darin, erkennen zu müssen, wie „klein“ ich eigentlich bin!) – Selbst spreche ich im Kontext von „Begabung“ lieber von „Resonanz“, auch im Verbund mit dem Glück – aus welchen Gründen auch immer – mir mein „Herz“ so offen gehalten haben zu können, um meinen ureigenen Weg gefunden bzw. nicht aus den Augen verloren zu haben – nämlich das Philosophieren.

Wahrscheinlich ist Vergleichbares grundsätzliches bei allen Kindern angelegt: Werden sie irgendeinem Umfeld ausgesetzt, beispielsweise Tennis, Schwimmen, Judo – und merkt man doch recht bald, was bei ihnen Anklang findet, oder eben nicht. Ganz einfach, weil sie selbst – ohne alles Nachdenken – schnell spüren, ob etwas sie anzieht, Resonanz in ihnen bewirkt, oder eben nicht. So war es wohl auch bei mir: Ein Märchen, in früher Kinderzeit etwa. Ein Held, der an einer Weggabelung von einer mächtigen Zauberin die Erfüllung eines Wunsches angeboten bekommt – einen zur Wahl aus: Gesundheit, Schönheit, Reichtum, Klugheit… Ich versetzte mich in seine Lage und spürte nach, was mir wohl zusage. Es sollte etwas sein, was nie, nicht so leicht, verloren werden kann und was sich jederzeit und überall ohne jedes Hilfsmittel ausüben läßt. Das musste wohl die „Klugheit“ sein, oder wie mir später klar wurde: die Weisheit. Damit hatte eine grundsätzliche Ausrichtung meiner Person ihren ersten noch gänzlich vagen und nur halbwegs bewußten Ausdruck gefunden. – Andere Erinnerung: in meiner gesamten gymnasialen Schulzeit gab es nur ein Angebot, das mich so anregte, dass ich ohne weitere Anforderung alleine aus innerer Motivation weiter recherchierte. Fiel eine Unterrichtsstunde aus, tauchte der Schuldirektor – seines Zeichens katholischer Pfarrer – als Ersatz auf. Und nannte das, was er dann tat: „Philosophie“. Besonders erinnere ich mich an eine Stunde, in welcher er erläuterte, was man unter Wahrheit zu verstehen habe. – Was mich jedoch nur dazu anspornte nach der Schule selbst zu recherchieren, ob seine Auskunft denn auch verläßlich sei. So besorgte ich mir ein Wörterbuch der Philosophie, um schnell zu erfahren, dass es mindestens drei weitere Wahrheits-Theorien gibt. Dieses gleichsam paradigmatische Erlebnis hatte dann die weitere Folge, daß ich Allem in der Schule Gelehrtem keinen unkritischen Glauben mehr schenken konnte. Vielleicht noch eine kleine Geschichte hierzu: Als ich später im schuleigenen Physik-Lehrbuch handschriftlich vermerkte, daß mir eine „Philosophie der Physik“ fehle, führte dies nach seiner Entdeckung zu einer öffentlichen Beschimpfung meiner Person als „Schmierfink“.

Sicherlich aber waren einer der nachhaltig und massiv auslösenden Faktoren für diese Neigung über Vorgegebenes, „Selbstverständliches“ hinauszulugen, die Verhältnisse in meiner Familie. Schon von klein auf versetzten mich Aussagen wie: „Man kann alles, wenn man nur will. DU mußt, und Du kannst, Du mußt es nur wollen!“ usw. in innerlichen Aufruhr. Ganz bestimmt war es ein solch durchgängiger gedankenloser Scheuklappenhorizont meiner Erziehungsberechtigten, der mich aufbrachte, ganz anders sein zu wollen. (Zu der in meiner Familie ebenso verbreiteten uneingeschränkten Herzensgüte hatte ich leider infolge der diesbezüglich weiter entfernten Verwandtschaftsverhältnisse keinen durchgehenden Kontakt). – Und zuguterletzt noch eine ganz frühes Bild: Ich kaum „knirpsgroß“, mit den Augen gerade so über den Tischrand ragend, sehe meinen Opa auf dem Wohnzimmertisch – nach der Arbeitszeit – seltsame Dinge machen mit seltsamen Instrumenten: Zirkel, Winkelmesser usw. Dabei mit einem Bleistift karge Linien und Figuren auf Papier zeichnend… „Geometrie“ – wie ich später erfuhr. Was war das? So etwas sonst nie zu Sehendes! Hier fand ich mich ganz Zuhause. Die Neugier Altbekanntes, Selbstverständliches zu überschreiten, um Anderes zu gewahren – und dessen Fremdheit wiederum zu überschreiten, um darin heimisch zu werden. Das sprach mich an. Philosophie als die Sehnsucht überall zuhause sein zu wollen (wie glaube ich Hölderlin einmal sagte).

Ebenso wie bei anderen Gelegenheiten akute Fragestellungen meinerseits nicht beantwortet wurden, wie z.B. „Was heißt eigentlich „die Frucht Deines Leibes“ im täglichen gebeteten „Gegrüßet seist Du Maria“? Revolte dagegen, daß man die Wahrheit als mir nicht zumutbar ansah – und zwar nicht einmal mit dem Angebot sich wenigstens mit mir darüber zu verständigen ….

PHG: Deine jesuitischen Lehrer, haben sie Dich auch weltanschaulich geprägt? Oder hattest Du schon von Dir aus einen Bezug und hast diese erste Deiner Hochschulen deshalb gezielt ausgewählt? Später warst Du ja noch in Bonn und Köln.

A.S. Beide Fragen verneine ich. Zu den Jesuiten stieß ich gewissermaßen aus „kindlicher Unschuld“.

Und erinnere mich auch heute noch sehr gerne an die sehr nahe, persönliche Atmosphäre im gemeinsamen Umgang dort von Professoren und Studierenden. Ebenso halte ich auch heute noch die bedingungslose Hingabe der Jesuiten ihres gesamten Lebens für die Philosophie für absolut vorbildlich – und unentbehrlich. (Auch wenn bzw. weil sie dies im Rahmen ihrer – davon noch einmal völlig unabhängigen totalen Hingabe an das Absolute – tun. Und ein dritter Punkt: Die interdisziplinäre Grundausrichtung aller Jesuiten an der Hochschule: Nicht nur Theologie und Philosophie als Grundstudiengang, sondern in jedem Fall noch eine weitere Disziplin hatten sie absolviert. Offener Blick über die „Stalltür“ hinaus!

A propos „gezielt ausgewählt“ von mir… – Auf keine Weise! Die Wahl meinerseits fiel auf die Jesuiten aus bloßer „Blauäugigkeit“: Nachdem mein Vater den Bewerbungsbogen für das „familiär erwünschte“ Studium der internationalen Agrarwissenschaft falsch ausgefüllt hatte (da  ich nach dem Abitur als Bettler auf Wanderschaft gegangen war), konnte ich die dadurch entgangene Zulassung zu einem Anglistik-Studium nur als „Freibrief“ auffassen, nun doch meinen Herzenswunsch Philosophie zu studieren, zu verwirklichen – wenigstens für ein Semester! Bewerbungsschreiben um Zulassung zu diesem Studium trotz versäumter Einschreibefrist, hatten ganze Stöße von vor Formularen und Richtlinien nur so strotzende Antwortschreiben zur Folge. Nur eines davon nicht: Nur auf einem, war meine Adresse per Hand aufgetragen und nur dieses bestand aus nur einem Blatt: „Kommen Sie doch einfach hierher. Wir freuen uns!“ – Und nur aus diesem Grund entschied ich mich für die Jesuiten! Also: Völlig ahnungs- und planlos!

Später dann: um einer auch nur möglicherweise einsetzenden weltanschaulichen Prägung dort zu entgehen, stand schnell mein Entschluß fest, nach Ablschuß des „baccalaureatum philosophicum“ ( Bacherlor) an eine andere Universität zu wechseln. Doch wohin? Wieder: Keine Ahnung, keinen Plan… – „dann geh ich eben in die (damalige) ‚Hauptstadt‘ Bonn“ – und wieder schieres Glück,  denn Bonn war, wie sich dann herausstellte, die größte philosophische Fakultät in der gesamten Bundesrepublik – und nicht nur das, fand ich doch dort auch meinen eigentlichen Lehrer: Prof. Peter Baumanns. Noch heute sehe ich mich bei ihm im Seminar sitzen über beide Ohren staunend über seine absolute Offenheit, einen unendlichen Horizont, daß er Dinge sah, von denen ich nicht einmal ahnte, daß es sie überhaupt geben könnte (Augustinus: „Ich weiß nicht einmal, daß ich nichts weiß “). Und seine so sichere und fruchtbare Urteilskraft, mit diesen Problemen umgehen zu können. Nichts mehr als dies auch zu können, wollte ich selbst – noch ohne alle Hoffnung, es jemals erreichen zu können … Und heute, klopfte heute „Gevatter Tod“ an meine Tür, um mich abzuholen, würde ich ihm sagen: Schon gut, ein paar Tage mehr ändern auch nichts mehr, denn ich habe Alles erreicht, was ich erreichen wollte. Auch wenn einige Menschen einwenden möchten: „Da wäre aber noch viel mehr zu erreichen gewesen“ – hätte ich nur zu entgegnen: „Ich aber wollte nur dies erreichen. Und insofern ist mein Leben geglückt. Und: Ist nicht das einzig wahres Glück, das einzige, das schlußendlich nur zählt? !“

PHG: Du hast in München Deinen ersten Abschluss in Philosophie schon nach zwei Jahren gemacht und zudem ein Diplom in Andragogik. Wolltest Du also von Anfang als Philosoph auch Lehrer sein? Die Philosophie in der Erwachsenenbildung betreiben?

A.S. Nein. Diesbezüglich hatte ich überhaupt gar keine bestimmten Vorstellungen. Sondern ging von Anfang an nur davon aus, dass sich schon etwas ergeben würde, wenn ich mich nur mit ganzem Herzen der Philosophie widmete. Oder genauer: Was auch immer sich später ergeben würde, ich würde es akzeptieren, denn die Hauptsache war mir, daß Philosophie die Hauptsache ist.

PHG: Du hast einmal gesagt: »Tatsächlich würde ich meine Heimat eher in geistigen Gefilden verorten. Meinesgleichen sind die Philosophen, mit denen ich mich beschäftige, oder die Menschen, mit denen ich mich in philosophischer Weise austauschen kann.« Für mich klingt das sehr sympathisch und lässt mich sofort an den geistigen Austausch unter den Humanisten seit der Renaissance denken. Aber kann solch eine Haltung und geistige Ausrichtung des Lebens nicht auch sehr einsam machen? Meist lebt man ja nicht unter Philosophen. »Meinesgleichen«, das kann etwas sein, was man selten findet. Gerade in den Lebensgeschichten von Hochbegabten finden sich die Spuren der daraus erwachsenden Probleme. Was für Erfahrungen hast Du mit dieser negativen Seite der »geistigen Gefilde«?

A.S. Lieber Peter, hier hast Du den wunden Punkt bei mir erwischt. Wie Kant sagte: Zum Glücklichwerden braucht es keine Vernunft (sinngemäß). Dafür reicht die/unsere Natur aus als Wegweiser. Zu was also ist die Vernunft gut? Zum Glücks-würdig-werden, so er! … – ja, das ist der Preis, den man für das kritische Nachdenken über das (vor allem: eigene) Denken zu zahlen hat. Daß man immer schärfer und immer mehr Dinge sieht – die man zuvor gar nicht bemerkte und zwar nicht nur bei Anderen, sondern auch bei sich und zwar solche, die ganz und gar unvernünftig sind (im empathischen, abwertenden Sinn), und zwar bis hin zu einem umfassenden Ekel am Leben. (Kant selbst weist explizit auf diese Gefahr hin unter den Titeln „Misanthropie“ bzw. „Misologie“ (in etwa: Haß auf die Vernunft). Und ja, das führt zur Einsamkeit. Hinwieder: Was sollte an dieser so schlecht sein? Ist es nicht eher so, daß Einsamkeit, die Chance bietet mit sich alleine zu sein, im Sinne von ungestört nur mit sich zu Rate gehen zu können, sollte das nicht sogar die unabdingbare Pflicht für Jeden von uns sein, um uns überhaupt nur selbst bestimmten zu können, autonom zu werden? Und: meinte nicht auch Schopenhauer, man solle sie immer wieder aufsuchen, um herauszufinden, wie sehr man es überhaupt mit sich selbst aushält..?! – Nein, das ist es nicht, was zu beklagen ist, sondern die Sache „weswegen“, also die Zustände dieser Welt und diejenigen, die hauptsächlich dafür verantwortlich zu machen wären – scheinen doch die Meisten vor sich selbst nicht verantwortlich zu sein … Dominantes Merkmal unserer Zeit: Verantwortungsdiffusion, – und ich erspare es mir, hier die Brücke zu Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ zu schlagen. Da wäre als Remedium, als Noo-Pharmazeutikum wohl ein gehöriges Maß an Einsamkeit zu verordnen – ab in eine endlose Langeweile, Ihr die Ihr keine Zeit mehr habt für Euch, keine Zeit mehr Euch zu besinnen!

Was tun nun, gegen dieses Problem der Absonderung, des Abgestoßensein? Ich jedenfalls versuche Erasmus‘ Weisung eines „Lobs der Torheit“ zu beherzigen… Ein wahrhafter Tor ist, wer nicht weiß, daß er ein Tor ist – bzw. vice versa: Wer weiß, daß er ein Tor ist, ist zwar immer noch ein Tor, aber nicht mehr gänzlich ein Tor … Immerhin kann oder sollte der dann nicht nur über die eigene Torheit lachen können (ride, si sapis), sondern auch über diejenige  der Welt. – Doch, ehrlich gesagt, weiß ich nicht wie weit das reicht. Gibt es doch derart abgrundtief Böses, daß es kaum auf den Nenner bloßer „Torheit“ verbucht werden dürfte.. – Dies auch angesichts des Phänomens, daß wer über sich lacht, leicht Andere anzustecken vermag , die dann gerne bereitwillig mitlachen – und es dadurch nicht mehr nötig haben, sich allererst in einem Machtkampf behaupten zu müssen….( Anyway: Ich bekenne: Doch brauche ich auch „kathartische Ausleitungen“, weshalb ich mich z.B. in „Ein-Wort-Gedichten“ übe wie z.B.: „PoLICKITer“ !

(Und auch hier könnte man einen weiteren Aspekt zu o.g. „Resonanz“ anschließen: In meinen ersten Studienjahren begegneten mir immer wieder Textstellen von zuhöchst geachteten Philosophen, die mir sozusagen „nichts sagten“.. So z.B. Sokrates‘ Abwertung von Politikern. Ich fragte mich, was das mit Philosophie zu tun habe – es schien mir allzu alltäglich, banal…

Ein paar Jahrzehnte später jedoch tauchen Gedanken in mir auf (diesesmal in der Anmutung eigener „Einsichten“) deren passenden Ausdruck ich dann bei Sokrates wieder finde….

PHG: Ich habe mich zwar mein ganzes Leben hindurch mit Philosophie befasst, ein Studium aber erst begonnen, als ich schon weit über die Lebensmitte hinaus war. Damals hatte ich das große Glück – so empfinde ich es immer noch – Dich als meinen Mentor zugewiesen zu bekommen. Du hast mit uns die Philosophie als intensive Lektüre betrieben, die um die Bedeutung von Texten gerungen hat, über die man sich dann im Gespräch miteinander verständigen musste. Kannst Du etwas über Deine Lehrmethode erzählen? Sie zielt ja eindeutig nicht auf irgendein vordergründig abfragbares Wissen ab.

A.S. Nun ja, diese Frage zwingt mir ein kleines Lächeln ab … Denn, eine bestimmte Lehrmethode habe ich mir ganz sicher nie ausgedacht. Sondern bin einfach so. Und das kommt an. Nicht, daß ich so bin, wie ich bin, sondern daß ich so bin wie ich bin, mich so gebe, wie ich bin… Und Menschen – gleich welcher Provenienz – spüren das. Kleine Kinder, einfache Menschen, angeblich  „Geisteskranke“ usw.  – Und das ermöglicht – nebenbei bemerkt – daß man sich grundsätzlich mit jedem Menschen auf der Welt unterhalten kann! Was sehr bedeutsam ist für mich. Dies gilt insbesondere für sogenannte „existenzielle Fragen“, die traditionellerweise auch in der Philosophie verhandelt werden. Und zwar ungeachtet individuell biografischer oder ganzer historischer Altersunterschiede. (Weshalb übrigens die Bemühungen bereits seit Jahrhunderten verstorbener Philosophen immer noch so aktuell sind, wie seinerzeit – was aber auch für alle anderen „Künste“ gleichermaßen gilt, wie Du weißt.) Diese dem Menschen offenstehende Zugangsmöglichkeit zu einem über die vorherrschende Gegenwart hinausreichenden Zeithorizont halte ich für einen wesentlichen Bestandteil von Glück. Noch etwas anders – etwas schärfer: In jedem Moment sich für fähig zu halten, sich etwas ganz Neuem, bisher noch nie Erfahrenem öffnen zu können, halte ich für die Grundbedingung des Freiseins – und damit der menschlichen Würde.

Selbstverständlich kann man naheliegendere Verwurzelungen meiner „Lehrmethode“ ausmachen, die wiederum zu meinem Lehrer Prof. Baumanns in Bonn führen – was aber die Frage nur ein Stück weiter verschieben würde, nämlich dazu: warum habe ich mir diesen Lehrer erwählt? Weil er eben ein unnachgiebig bohrender Geist gewesen ist. Ich erinnere mich, dass wir beispielsweise im Ringen um das Verständnis eines hegelschen Wortes vier volle Stunden diskutiert haben. Und sowas kam öfters – um nicht zu sagen dauernd – vor. Um aber von dieser zeitlichen Ebene weg, zu mehr dem Wesen der Sache zu kommen, assoziiere ich zuerst Nietzsches Wort: „Werdet wie die Kühe, denn ihrer ist das Himmelreich“. – JA! Darum geht es mir: Nicht einfach etwas schlucken (und möglichst schnell wieder ausscheiden, um Neuen Platz zu machen – d.h. zu „konsumieren“), sondern kauen, kauen und nochmal kauen – also: wiederkäuen, um es zu verdauen. Sodaß alle Nährstoffe aufgenommen werden, in Leib und Seele übergehen.. Und dieses wiederkäuen, dieses Einverleiben gelingt mir besser mit anderen Menschen zusammen, weil diese immer wieder Aspekte entdecken, die ich noch gar nicht „durchkauen“ konnte… Philosophieren also glückt (mir) am besten als „Symphilosophieren“, im Philosophieren mit Anderen zusammen – und zwar „live“ und persönlich.

Und nochmal anders zum Thema „Wiederkäuen“: Immer häufiger stelle ich nun in meinem fortgeschrittenen Alter fest, dass Fragen aus meiner Jugendzeit nicht einfach verschwunden sind, sondern sich gelegentlich wieder melden, mit der deutlichen Botschaft, daß sie sich nun (endlich) einer Antwort, oder wenigstens ihrem rechten Verständnis näher fühlen. Dies scheinen mir die wahrhaft wichtigen Fragen zu sein, solche, die sich nicht einfach abtun lassen, sondern präsent bleiben, auch wenn sie über lange Zeiten „stillhalten“, oder erhalten, auch wenn Sie keine Antworten finden. Und selbst so sind sie immer noch mehr wert, als in dumpfer Blindheit selbstverständlicher Orientierungen sein Leben ablaufen zu lassen..

Andersherum: Allen auch noch so geringen Zeitaufwand für die Sicherstellung einer bloßen Abfragbarkeit von nur informativen Wissen lehne ich rundherum ab. Als Mensch glücke ich mir nicht zuletzt, wenn ich mir die Gedanken Anderer zueigen machen kann und mich insofern auch als Mensch für sie eigne! Eignet Euch einander zu!

PHG: Heute weiß ich, dass ich damals mit zwei zentralen Problemen ins Studium gekommen und bei Dir gelandet bin. Ich hatte gerade eine lebensgefährliche Krankheit überstanden, war ganz erstaunt, dass ich überhaupt noch lebte und wusste nicht, wie lange das noch andauern würde. In dieser Situation hatte ich zum einen das drängende Gefühl, dass ich einfach viel zu wenig wusste. Zu wenig über alles, die Welt, meine Existenz darin usw. Und zweitens war mir auch fast beschämend bewusst, dass ich gar nicht klar genug zu denken vermochte, um mir dieses Wissen selbständig zu erschließen. Erwartet habe ich das von der Philosophie. Kann sie das leisten? Ist sie dafür die richtige Adresse? Und wenn ja, was ist der Grund dafür?

A.S. Lieber Peter, ich weiß nicht, ob sich diese deine Zielsetzung dann auch bewährt hat. In jedem Fall hatte ich von Anfang an den Eindruck, dass du – laß es uns so sagen – „philosophisch“ bist. Also in existenziellem Ernst und nicht zurückgehaltenem Engagement zu einen befriedigenden Umgang mit deinen Fragen bereit bist. Dies vorab. Nun zur Philosophie: ich bin bis in die tiefsten Fasern meines Seins vollständig überzeugt, dass die Philosophie beiden Ersuchen gerecht zu werden vermag. Sowohl was die Klarheit des Denkens anbelangt, als auch Einsicht in Fragen welcher Art auch immer. (Ist wohl sicherlich ein wenig müßig, einen Philosophen nach dem Sinn der Philosophie zu fragen, dessen Antworten als wohl ebenso voreingenommen zu erwarten sind, wie von einem Musiker eine zum Sinn der Musik zu verlangen). Zumindest für mich und meinesgleichen halte ich die Philosophie für den Königsweg, um sich selbst zu vervollkommnen, oder – in anderer Diktion – den Sinn des Lebens zu finden. Um was geht es also im Philosophieren? Es geht darum, sich frei zu machen von überkommenen Vor-Urteilen, um sich selbst bestimmen zu können, selbst mit sich stimmig zu werden, um richtiger leben zu können, erfüllter, intensiver, wacher, usw. – Was ist der Grund dafür? (Ich denke, über diese Ziele selbst brauchen wir nicht lang zu rechten – ich halte sie für evidentermaßen äußerst bedeutungsvoll.) Wie schafft die Philosophie dies nun? Ganz einfach: philosophieren heißt, sich selbst anders sehen zu können (als bisher) – sich selbst, mit allen Überzeugungen, allen Selbstverständlichkeiten, weil es in der Philosophie darum geht, sich in ganz gegensätzliche Standpunkte versetzen zu können und zwar so sehr, dass man für diese einstehen könnte, sie in diesem Sinne also aller erst versteht – und sich dann aus diesem anderen Standpunkt heraus wiederum selbst ganz anders verstehen kann, anders, als wenn man immer nur im Schummerlicht eigener beschränkter Leuchtweite verbleibt. Ganz kurz: „Weg von sich – zu sich!“

Was im Übrigen ja auch ein ganz „natürliches“ Phänomen zu sein scheint: Denken wir nur an Kierkegaards Dictum: Man muß zwar nach vorne leben, doch versteht man sich erst im Rückblick (sinngemäß). Ist das prinzipiell Neue, das uns von Moment zu Moment immer wieder zu-kommt, zu-Kunft ist, nicht die neue Standpunktlichkeit, die das Vergangene in einem anderen Licht erscheinen läßt? Von der Zukunft her wird die Vergangenheit zu einer neuen Gegenwart. Daß einem die eigene Vergangenheit immer neu gegen-wartet, sollte einem in jedem Moment neu zukommen können. Auch dies noch zugespitzter: Man sollte so leben, daß sich jeder Moment derart verinnerlicht, daß er auch zukünftig Sinnanschluß bietet.

PHG: Heute würde man ja schon lange sagen, dass Wissen, vor allem das anwendbare Wissen und wer interessiert sich für anderes, in den Wissenschaften generiert wird. Wie würdest Du heute das Verhältnis zwischen Philosophie und den Wissenschaften bestimmen?

A.S. Am liebsten würde ich sagen: Philosophen sind vernünftig und Wissenschaftler nur verständig – oder: Philosophen denken, Wissenschaftler bilden sich etwas ein. Nun gut, ich will hier nicht zu provokativ werden, obwohl ich das nur allzu gerne täte. Deshalb etwas versöhnlicher: Philosophie sollte auf keinen Fall Wissenschaft sein wollen. Damit gäbe sie sich selbst auf. Und: Wissenschaft kann keine Philosophie sein. Auch wenn die Philosophie ihrem Namen nach nur das beständige Bestreben nach Weisheit ist, so steckt doch hier schon ein eklatanter Unterschied zum bloßen Wissen. Weisheit meint mehr. Wissen kann ich alles Mögliche, ohne doch weise zu sein. Und: Um weise zu sein, brauche ich kein wissenschaftliches Wissen, oder? – Worin besteht nun der Unterschied? Weise sein heißt: bei sich zu sein, sich selbst zu bestimmen, und einstimmig zu sein in Denken, Reden und Handeln – und zwar unter ständiger Aufrechterhaltung von Irritabilität, Vorläufigkeit und Überholbarkeit (womit wir wieder beim „Neuen“ der Zukunft und dem Freisein des Menschen wären (s. oben): Wer einen Menschen nur von seinen bisherigen „Daten“ her festschreibt, würdigt ihn nicht als Mensch!). – Es geht hier bei „Weisheit“ demgemäß insgesamt um eine wachsame, mit Wissen, ge-wissenhafte,  (vgl. „con-scientia“), „Lebensführung“

Leider wird besonders in unseren Zeiten oft übersehen, daß in diesem Sinne philosophisches Wissen durchweg Anwendungswissen ist, und zwar das eigentlich Wichtigste, das Unabdingbare: Haben wir doch vor Allem unser Leben zu führen und alleine dies zuguterletzt vor uns zu verantworten!

Dagegen halte ich den auf nur äußere Anwendung schielenden Blick aller sogenannten Wissenschaften für nebensächlich. Mindestens auch noch weit hinter den Künsten zurückbleibend!

PHG: Du hast einmal gesagt: »Kant hat mich noch nie enttäuscht.« Ich erinnere mich an höchst intensive Kant-Seminare bei Dir, tagelange und auch wochenlange Kant-Lektüren. Doch würde ich ihm für mich solch einen Stellenwert nicht mehr einräumen. Zwar würde ich seine Rolle innerhalb der Aufklärung immer hochhalten, aber der erkenntnistheoretische Wert seiner Arbeiten ist in meinen Augen gering. Über Raum und Zeit etwa müsste man ganz neu nachdenken. Kannst Du mich da bitte korrigieren? Woran liegt es, dass Kant Dich nie enttäuscht hat?

A.S. In aller Kürze: Das liegt eben an Kant. Dabei geht es mir nicht in erster Linie um seine inhaltlichen Standpunkte, sondern um die Weite und Schärfe seines Geistes. (Um es ganz drastisch zu sagen: Auch „falscher“ Gedanke vermag äußerst gedankenvoll und richtungsweisend zu sein. Denn: Zum Fehler wird etwas erst, wenn man nichts daraus lernt). – Vielleicht ja konzentriert man sich gewöhnlicherweise vor allem nur auf den „theoretischen“ Kant, den also der „Welt-Erkenntnis“-theorie, Raum und Zeit usw. – Doch gibt es noch mehr: Den Kant, der beispielsweise zum Nachtisch eines Essens Witze-Erzählen empfiehlt, oder als handliche Formel für die alltägliche Anwendung des kategorischen Imperativs die Maxime empfiehlt: „Beurteile einen Andern immer so, daß Du ihn noch liebenswürdig findest“. (Was mich – und darum geht es mir auch für jeden Anderen Kant-Leser –zur Umformulierung bewogen hat: „Beurteile Dich selbst stets so, daß Du Dich noch liebenswürdig findest!“ (Ich finde dies noch ein „wenig“ schwerer als das Erstgenannte!)  – So halte ich auch seine drei zur Weisheit führenden Maximen für sehr wegweisend: 1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. (Anthropologie)

Das ist mir wichtig: Eine solche „Transfer-Kompetenz“ zu erwerben, Transfer ins eigene „Fleisch und Blut“ . Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, ein Kant- oder Platon oder sonstiger „philologischer Exeget“ zu werden, sondern nur daran, für mich selbst dazu zu lernen – und nur solches will ich bezeugen.  – Und genau in diesem Sinne hat mich Kant noch nie enttäuscht! Als Anreger, Augenaufreißer, als Vor-gänger nämlich… – Wie gesagt: Solches muß nicht allgemein nur auf Kant zutreffen – für einen Anderen mag ein anderer Philosoph die gleiche Bedeutung haben können. – So wie ich auch immer wieder nur bekennen könnte: Denken gelernt habe ich bei Hegel!    

PHG: Wir leben in einer höchst unübersichtlich gewordenen Welt, ob es nun um die politischen Verhältnisse oder die wissenschaftliche Entwicklung geht, besonders auf dem digitalen Gebiet. Und diese allseitige Unübersichtlichkeit nimmt mit einem unerhörten Tempo zu. Ich könnte meiner Enkelin, so der Vorwurf meines ältesten Sohnes, heute nicht einmal mehr einen Ratschlag für die Berufswahl geben, weil die Berufe, zwischen denen sie künftig zu wählen haben wird, heute noch gar nicht existieren. Wohin siehst Du die Entwicklung gehen? Kann die Philosophie dabei Orientierung bieten? Oder wird sie in zwanzig, dreißig Jahren so veraltet wirken, wie die Berufe meiner Enkeltochter dann neu sind? Und wenn nicht, warum nicht?

A.S. Ich bin kein Prophet und schwanke selbst immer wieder, wenn es um Zukunftsfragen geht. Auch ich habe Kinder… –  Grundsätzlich jedoch denke ich, wir leben nicht, um bestimmte Berufe oder so etwas zu ergreifen, zu arbeiten also und Geld zu verdienen (wie das heute so aussieht), sondern wir tun etwas („arbeiten“ z.B. im aristotelischen Sinne) um überhaupt erst eigentlich zu leben. Erst also, wenn die bloß notwendigen Lebensbedürfnisse einigermaßen abgesichert sind, dann vor Allem zu diesem Zweck: „Gut“ zu leben. Und es ist die Philosophie, die diese Frage: Was heißt denn überhaupt „gut“ zu leben?“ virulent zu machen versteht. Und so vermag sie Orientierungshilfe zu bieten über die Kurzsichtigkeit des Tages (und sei dies auch ein Tag einer ganzen historisch-kulturellen „Epoche“) hinaus. – Doch haben nur wenige die Ohren für diese Stimme… Woran das liegt? …- Nicht unbedingt an ihren Ohren, wohl aber, weil „man“ sie gehörig entwöhnt hat, das zu hören, was sich eigentlich gehört. In Anbetracht dieser Entwicklungen bin ich keineswegs optimistisch. Für mich stehen alle Zeichen auf Untergang. Die Natur ist schon drauf und dran. Und zwar nicht an sich selbst, sondern aufgrund desjenigen sogenannten Wissens, das man heutzutage überall mit Prädikaten wie erfolgreich, effizient usw. garniert – was selbst ja schon ein verdächtiges Indiz ist! Auch werden die sozialen Verhältnisse (Stichwort: „Gerechtigkeit“) immer unerträglicher. Und was der Mensch (die Menschen) dabei sind, aus sich selbst machen bzw. sich antun, das will ich erst gar nicht mehr erleben (Stichwort: Neuro-Enhancement, Gendesign usw. ) . – Ja, ich halte es sogar für wahrscheinlich, daß die Philosophie in ein paar Jahrzehnten schon als derart „veraltet“, „unzeitgemäß“ und überflüssig“ angesehen wird, daß sie nicht einmal mehr ihrer derzeit noch verbleibenden Alibi-Funktion im akademischen Bereich als Praxis menschlicher Selbstbesinnung für würdig befunden wird und deshalb „abgeschafft“ und auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt – also völlig dem Vergessen anheimgestellt wird.

PHG: Irgendwo habe ich gelesen, Du habest als Motto den Satz der Ingeborg Bachmann »Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.« Ich habe diesen Satz ebenfalls immer sehr hochgehalten. Da ich ein Kinder der frühen Nachkriegszeit bin, bezog ich ihn auf den deutschen Faschismus und den Holocaust, was dazu geführt hat, dass ich in meinen Büchern stets versucht habe, meinen Lesern davon zu erzählen, ihnen diese Ereignisse der deutschen Geschichte in Erinnerung zu rufen, sie ihnen zuzumuten. Was verbindest Du mit dem Bachmannschen Diktum? Welche Wahrheit versuchst Du, den Menschen zuzumuten? Und gibt es Wahrheit überhaupt, also außerhalb des logischen Kalküls?

A.S. Ich verstehe mich als Kämpfer in „Gottes Namen“ (um eine alte Formulierung zu strapazieren). Beauftragter in Sachen Wahrheit. Selbstverständlich gibt es die Wahrheit – oder eben viele (kleine) Wahrheiten, insbesondere und ganz sicher auch außerhalb der Logik. Ich bin geradezu konsterniert über diese Alles überwuchernde Infragestellung und Außer-Kraft-Setzung von Wahrheit heutzutage in weitesten Kreisen des „Publikums“. – Es dürfte doch – und zwar: völlig unabhängig von jeglicher bloßer Logik – z.B. klar entschieden werden können, ob beispielsweise eine Frau schwanger ist, oder eben nicht nicht, oder? Dies nur als ein (!) Beispiel aus dem empirischen Bereich. – Im Allgemeinen glaube ich, unterschiede man zwischen theoretisch durchtränkten Auseinandersetzungen mit Phänomenen (d.i. „Sophistik“) und dem unmittelbar von ihnen Betroffensein, sähe das ganz anders aus. Wer wollte z.B. auf moralischem Gebiet allen Ernstes behaupten, daß die Vergewaltigung kleiner Kinder völlig standpunktrelativ sei, es also nicht nur eine Wahrheit gäbe, sondern je nach Perspektive viele, einander entgegengesetzte. Daß das Gut, das der Vergewaltiger dabei empfände, ebenso gut sei, wie das, welches die Verteidiger des Opfers annehmen? Muß man hier – immer noch, oder schon wieder – wirklich derart abstoßende Beispiele anführen, damit das mal endlich klar wird? Woran liegt das nur – nach all den historisch „kürzlich“ gemachten Erfahrungen mit Horror-Bösem, daß schon wieder alles Mögliche nivelliert wird? Ich denke, das sogenannte „faschistische Denken“ sollte nicht eingegrenzt werden auf einen bestimmte historischen Zeitabschnitt. Viel eher geht es mir darum, nach solchen Wurzeln des Faschismus zu suchen, die erklärlich machen, daß er immer noch in den Köpfen allzu-Vieler weiter und weiter und weiter zu wuchern versteht!i

Merke: Bei all dem geht es nicht mehr um das unmittelbar persönlich zur Ver-Antwortung-Gerufen-werden einer beispielweise vor den eigenen (!) Augen im Mittelmeer ertrinkenden Mutter, die dabei gerade noch ihr Neugeborenes entbindet, sondern um etwas ganz Anderes: Um von der unmittelbaren Situation ganz absehende, rein abstrakte Interessen. Wen aber das immer noch nicht überzeugt – weil er als selbst davon Nicht-Betroffener eben rein gedanklich leicht abstrahieren kann, der sollte sich vielleicht einmal klar machen: Dass Wahrheit in einem noch viel stärkeren und zwar in einem absoluten, unvermeidlichen Sinn unverzichtbar ist und zwar so, daß sie von Jedem, auch und gerade ihren Verleugnern jederzeit in Anspruch genommen wird: Beansprucht doch jede Behauptung immer schon Wahrheit. Nicht zuletzt die Behauptung beispielsweise: „außerhalb der Logik gibt es gar keine Wahrheit“. Diese will doch wohl selbst wahr sein, oder? (Und nicht nur dies, sondern außerdem fordert sie ja im Akt des Um-Zustimmen-Bittens noch ebenso, daß der Antwortende „frei“ ist, über seine Zustimmung oder seine Ablehnung frei entscheiden zu können, oder? – Wäre dem nicht so, so könnte man fragen: Machte es dann überhaupt noch einen Unterschied, eine Behauptung einem Menschen oder einem Kieselstein zur „Beurteilung“ vorzulegen?

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ jedoch fokussiert sich auf zwischenmenschliche Belange. Dem anderen Menschen nämlich Offenheit und Wahrhaftigkeit schuldig zu sein. Nicht nur in Bezug auf Sachverhalte (Stichwort: „fake news – alternative Fakten), sondern vor allem auch in Bezug auf sich selbst! Denn so, wie einem der Andere gewöhnlicherweise ein Anderer in Bezug auf sich selbst ist, so dient er doch nur als Beispiel dafür, daß es zum Menschsein gehört, auch sich selbst gegenüber ein Anderer zu sein. Nämlich sich vor allem wahrhaftig selbst gegenüber Rechenschaft abgeben zu können, was nicht mehr heißt als (sich) „ver-antwortlich“ zu sein. Vice versa: Grundvoraussetzung wiederum dafür, einander – von Mensch zu Mensch – ver-antwortlich zu sein! Und zwar im Horizont einer gemeinsamen – den Menschen eigentümlichen und wesentlichen „Pluralität“, will sagen:  Einander nicht als bloße serielle/quantitative Vielheit bzw. Verschiedenheit anzusehen (wie bei der Ziegelbau-Herstellung, beispielweise), sondern einander als verschieden, fremd anzuerkennen und darin eben einander zu gleichen. Noch deutlicher: Von Unaustauschbarkeit, Unersetzbarkeit, oder eben – damit wir den Kontrast zur Waren- und Geldwelt hinbekommen: von der „Un-Verrechenbarkeit“ eines jeden Menschen, seiner „Singularität“ also auszugehen. Allein ein solch gegenseitiges Sich-Wertzuschätzen, macht das Besondere des Menschen aus – allein dies! Und eben nicht das Einander-Gleichmachen, das dazu übliche Andere-Täuschen, deren Manipulation, ihr „Überreden“ usw. – also die Wahrhaftigkeit. Es sollte nach zweieinhalb Tausend Jahren philosophischem Bemühen doch endlich einmal Schluß damit sein können, mit all dem üblichen Bullshitten, dem „herum- und hinunter-TRUMPpeln“, dem von Oben herab-“Blödern“, dem „Sehr-doofern“ usw. usw. – Kurzum: Dem bodenlosen Verachten von Mitmenschen, auch wenn diese  von selbsternannten Repräsentanten der sogenannten abendländischen Leitkultur, den medialen „Gala“-Katholiken etwa, denn auch noch feiertags öffentlich in ihren „heiligen“ Zusammenkünften als „Brüder und Schwestern“ verleumdet werden..

Und dabei beschränken sich die aktuellen Herausforderungen der Philosophie nicht nur auf das Wachhalten einer lebendigen Erinnerungskultur des bereits über tausende von Jahren Erarbeiteten, sondern werden von ungeahnten und dringlichen, weil völlig riskanten, da noch nie erfahrenen ganz neuartigen Entwicklungsmöglichkeiten neu befeuert:

  • Die alte Frage des Menschen: Was ist der Mensch? In Anbetracht der gentechnischen, neuro- oder KI-technologisch usw. sich abzeichnenden Möglichkeiten
  • Die alte Frage nach einander als Menschen gerecht werdendem Umgang in Anbetracht ungeahnter sozial möglicher Disparitätsverhältnisse (nicht nur mit dem Kumulationspunkt beispielsweise „ökonomischer „Un-Gerechtigkeit“)
  • Oder die alte Frage nach dem Verhältnis „unserer“ Natur zu „der“ Natur. Sind wir denn – auch wenn wir keine Tier sein wollen – nicht noch immer Tiere? Zerstören wir uns selbst, wenn wir – wie sich abzeichnet – auf nie dagewesene Weise die Natur – genauer: ihre Regenerationsfähigkeit in Hinsicht auf unser eigenes Überlebenkönnen in ihr vernichten?

(Wobei sich stets die Fragen stellen: „Was heißt hier „wir““? bzw. „Wer hat hier die Macht diese Geschicke zu lenken? Und zwar von uns Allen? – Und: „warum“ hat er die eigentlich?)

Dennoch – um das Ganze nicht ohne etwas Tröstliches abzuschließen, bleibt es – summa summarum immer noch dabei für mich:  Philosophieren heißt: Aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen!

PHG: Ich danke Dir für das Gespräch.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker