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Der Untergang von Kasch + der Beginn der Geschichten

Mittwoch, 15. Januar 2020, mit Avishai Cohen + Nitai Hershkovits

Wie verhält sich das mit den Geschichten? Was ist und was tut das Erzählen? Wer erzählt? Und wozu braucht man Geschichten? Nun scheinen das banale Fragen zu sein, die jeder Wochenendkurs an der Volkshochschule zu beantworten vorgibt. In Wahrheit ist dem natürlich nicht so. Ich habe selbst Jahrzehnte hindurch das Schreiben unterrichtet und weiß deshalb, dass ich meinen Schülern im besten Fall beibringen konnte, das Gerüst des Gebäudes zu bauen, an dem sie sich festhalten sollten bei dem Versuch, den Funken zu entzünden, der die Magie einer wahren Geschichte belebt. Bei einigen wenigen ist es mir gelungen.

Nun, warum schreibe ich hier darüber? Ich unterrichte doch schon lange nicht mehr. Im vergangenen Jahr, Mitte September, habe ich mit dem Schreiben einer Novelle über den berühmten Kabbala-Forscher Gershom Scholem begonnen. Sie heißt „Das Buch des Glanzes“. Ich führte sie bis zum Jahresende, genau bis zum 24. Dezember, weiter, seither liegt sie auf dem Desktop meines Rechners und könnte da wohl noch lange liegen. Wenn, ja wenn, es die Geschichte und mein Unterbewusstsein, in dem sie lebt, nicht anders wollten. Denn am Morgen, als ich mich nach kurzem Wachsein noch für eine Stunde hinlegte, da habe ich von dieser Novelle geträumt. Und der Traum hat mir den Schluss der Geschichte erzählt. Zwar hatte ich schon einen Schluss, doch war es nicht der wirkliche Schluss, das weiß ich jetzt.

Aber wie hat das alles eigentlich angefangen? Also nicht nur meine Geschichte. Und was tun Geschichten überhaupt? In „Der Untergang von Kasch“ (seiner erzählerischen Quelle) schreibt Roberto Calasso:

Die Legende erzählt von einem afrikanischen Königreich, wo der König getötet wurde, wenn die Sterne am Himmel bestimmte Positionen erreicht hatten. Dort traf eines Tages ein Fremder ein, der berauschende Geschichten erzählte. Die Priester, die ihm lauschten, vergaßen, auf den Himmel zu achten. Mit der Ankunft des Fremden nahm der Untergang der alten Ordnung von Kasch, die auf dem Opfer beruhte, ihren Anfang. Aber auch die neue Ordnung, aus der die rituelle Tötung des Königs verbannt worden war, ging bald unter. Es blieben nur die Geschichten.

Das Land Kasch, in dem die göttliche Ordnung gestürzt wurde und am Ende die Geschichten überblieben, hat es wirklich gegeben. Es ist das Land der schwarzen Pharaonen von Nubien. Dort findet man heute noch mehr Pyramiden als in ganz Ägypten. Ich empfehle dazu den hier verlinkten Film auf arte.

Die Pyramiden des Sudan

Das ist der Mythos. Er erzählt von dem Mysterium der Verwandlung, an dessen Ende nur noch die Geschichte übrigbleibt. Um das besser zu verstehen, will ich hier am Schluss eine andere Geschichte wiedergeben, die er, wie Scholem schreibt, „aus dem Munde des großen hebräischen Erzählers S.J. Agnon gehört hat.“

Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditation versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: „Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen“ – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: „Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Wald, wo all das hingehört, und das muß genügen.“ – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: „Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.“ Und – so fügte der Erzähler hinzu – seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.

Ja, darum gehts. Und manchmal kann der Erzähler nicht mal mehr die Geschichte erzählen. Dann tut es der Traum, vorausgesetzt ….

Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker