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Verwehte 70?

Samstag, 04. Januar 2020, bei ‚Duende‘ von Avishai Cohen und Nitai Hershkovits

„Das biblische Alter ist erreicht“ schrieb Ernst Jünger am 30. März 1965, dem Tag nach seinem siebzigsten Geburtstag, in sein Tagebuch. Mir war stets erstaunlich, wie er das für sich akzeptiert, ja, gar vorauszusetzen scheint, kein Widerspruch regt sich in seinen Aufzeichnungen, dass er das biblische Alter erreicht habe, ist ihm eine Tatsache, die es zu verzeichnen gilt. Ebenso, dass es ein „großer Abschnitt“ im Leben sei, was da jetzt beginnt. Er muss also zumindest ein entsprechendes Gefühl gehabt haben.

Nun, vielleicht fühlt sich das für jemanden, der 1895 geboren wurde, also noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, ganz natürlich an. Hat man nicht auch den Umstand, dass man Rentner oder Großvater, kuschelig Opa genannt, wurde, in dieser Weise akzeptiert, es für sich übernommen und ein entsprechendes Verhalten an den Tag gelegt?

Mir ist dieser Gedanke ganz fremd. Das sage ich ausdrücklich heute, am Tag nach meinem 70. Geburstag. Biblisches Alter? Ach, du meine Güte, was soll das sein? Es müsste doch irgendein Korrelat geben, etwas das körperlich und/oder geistig als Entsprechung für diesen Befund herbeizitiert werden könnte. Aber das gibt es schlicht nicht.

Das Leben meines Geistes, mein Denken und Wollen, fühlt sich nicht anders an, als im Alter zwischen 30 und 40, – dem zeitlichen Ort, an dem ich mein Basislager aufgeschlagen habe – ja, in vielen Details besser, frischer, begieriger, schneller, auch als habe sich mein Fassungvermögen gesteigert, und meine Neugierde ist ungebrochen, auf Musik, Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Und natürlich auf Literatur, auf neue literarische Formen, die ich erst noch entwickeln könnte.

Die Behauptung, dass ich mich im biblischen Alter befände, ist angesichts dessen schlicht absurd. Nun hat Ernst Jünger, als er diese Zeilen schrieb, nicht wissen können, dass fast ein Drittel, genau 33 Jahre, seines Lebens noch vor ihm lag, er also 103 Jahre alt werden sollte. Damit rechne ich ganz und gar nicht, aber ich werde mich so verhalten.

Kommen Sie gut in Ihr eigenes neues Jahr
und bleiben Sie glücklich
wünscht PHG

PS: Jünger meinte, die großen Abschnitte im Leben des Einzelnen begännen mit einem Gebet. Ich würde eher sagen, dass das Werk und alles Neue immer mit einem Traum beginnt. Aber er hat Recht, dass wir alle Beter und Träumer sind.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker