Ein Zug auf der Brücke
Samstag, 16 November 2019, am ersten Jahrestag des Todes der Mutter meiner Liebsten, bei Songs von Alin Coen und Joni Mitchell
Bin jetzt mit der Durchsicht des römischen Tagebuchs über die Seite 200 hinaus und fand dabei auch den ersten Entwurf der Story „Der Zug auf der Brücke“, die ich im Jahr drauf beim ersten Treffen 1990 auf Kreyenhoop bei Walter Kempowski vorgetragen habe. Ich merkte unter der Lektüre, dass selbst dieser knappe Entwurf für mich immer noch (nach abermals 30 Jahren) eine starke emotionale Kraft besitzt und will die Notiz deshalb hierher setzen.
07. Juli 89/23:55
….. Begann heute mit der Erzählung ‚Der Zug auf der Brücke‘. Jedoch nur ganz kurzer Anfang, da ich vor Beginn der Abendveranstaltung und meinen Gesprächen mit Frau Wolken und Maria betreffs ‚POL‘ nichts mehr schaffen konnte. Es geht um die Geschichte, die mir bei der Rückkehr aus der Düsseldorfer Klinik einfiel. Der kranke Protagonist fährt an seinen Wohnort zurück und durchquert dabei die Stadt, in der er als Kind gewohnt hat, mit dem Zug. Der Zug hält unvermutet auf einer kleinen Brücke in der Stadt, und der Mann schaut aus dem Fenster. Unten steht ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren auf dem Schotterweg und schaut zum erleuchteten Zug hinauf. Er trägt eine ebenso verschoßen grüne Manchester-Jacke wie der Mann am Fenster des Zuges sie in seiner Kindheit getragen hat, als er über diesen Weg, der ihm noch ganz unverändert vorkommt, zum Sporttraining ging. Der Mann begreift, daß er sich hier selbst begegnet, daß er seinem Kindergesicht in die Augen schaut, dreißig Jahre später. Und er erinnert sich an seine damalige Verzweiflung, da er glaubte, daß ihm die Zukunft verschlossen sei. Wie, hatte das Kind damals gedacht, soll ich jemals älter werden? Wie komme ich weiter und fort? Die Zukunft ist wie ein dunkler Abgrund und existiert vielleicht gar nicht, kein Weg, auf den ein Fuß gesetzt werden könnte. Der Mann erinnert sich an alles, und er sieht dabei das Kind, das er einmal war, sieht es auf der Straße, auf der er dreißig Jahre zuvor gegangen ist, begreift die Hoffnungslosigkeit, die er als Kind damals empfand neu, und er möchte aussteigen aus dem Zug, um das Kind, das er einmal war, in den Arm zu nehmen, um ihm zu sagen, daß alles gut werden wird. Er möchte es trösten, ihm sagen, daß die Zukunft kein dunkles Loch ist, das alles verschlingt. Er möchte ihm sagen, siehe, ich bin du. Du hast überlebt. Du wirst in dreißig Jahren ein Schriftsteller sein, das ist nicht so schlecht. Schule deinen Blick auf die Welt, um etwas von ihr mitzuteilen, was die anderen Menschen brauchen, denn sie brauchen die Künstler und du bist dabei einer zu werden. Das ist ein großes Geheimnis und ein schwerer Weg, aber er ist da, nichts ist verschlossen. Es ist der Weg, den du gehen kannst. Verzweifele nicht. Ich bin du, und du hast deshalb diesen Weg vor dir. Dann fährt der Zug an, das Bild des Jungen unten auf dem Weg gleitet aus dem Rahmen des Fensters fort und der Mann ist wieder im Zug, allein, obwohl doch so viele andere Fahrgäste um ihn sind. Er möchte die Notbremse ziehen, doch dann muß er an all das andere denken. An all die Jahre, die ihn von diesem Kind, das er einmal war, trennen, muß an seine vielen Niederlagen denken, und muß an das denken, was ihn sein kleiner, allenfalls mittelmässiger Erfolg, denn einen wirklich großen hat er bisher nicht gehabt, gekostet hat. All die Verluste und Schmerzen, all die Investitionen an Kraft, die doch zu nichts geführt haben, all die Verzweiflungen zwischendurch, die er nur mit den stets wiederholten Sätzen ‚Wir geben nicht auf. Wir fangen nochmals an!‘ hat bekämpfen können. Und er begreift, daß er dem Jungen, der er einmal war, nichts als Lügen hätte erzählen können. Nun ist er sogar krank, hat eine Krankheit zum Tode, auch wenn er mit ihr noch einige schlechte Jahre wird leben und schreiben können. Soll er das dem Kind sagen? Nein, es ist besser, das Kind nicht zu treffen. Er würde ihm nicht in die Augen sehen können, denn das, was auf das Kind wartet, ist viel schrecklicher, als all das, was das Kind in seinem Innern damals mit sich herumgetragen hat. Es würde nicht mehr leben wollen, wenn es die Wahrheit wüßte. Dies in etwa die Geschichte.
Natürlich auch keine fröhliche Urlaubslektüre, aber diese Lektüren sind ja noch viel verlogener, als es die dürftigen Tröstungen, an die die Hauptperson dieser Geschichte gedacht hat, jemals sein könnten.
Also, „Kein Jahr der Liebe“ muss erscheinen. Doch erstmal die erste vollständige Lektüre after all this years.
Möge das Kind, das Sie waren,
glücklich bleiben
wünscht Ihnen, Ihr PHG