In einer Welt der Desaster leben
Mittwoch, 13. November 2019
Am Nachmittag hörte ich mir länger den Livestream der Impeachment-Anhörungen des ehemaligen Ukraine-Botschafters Taylor an. Sie läuft zur Zeit noch, aber ich fand das Gehörte irgendwann so desaströs, dass ich abschaltete und stattdessen mit meiner Lektüre des Rom-Tagebuches von vor 30 Jahren fortfuhr. Und was passierte? Ich geriet in Aufzeichnungen, die nicht weniger desaströs waren. Zudem entdeckte ich, dass mein ältester Sohn mit 14 Jahren ein Vorläufer von Greta gewesen ist. Das sieht so aus:
30. März 89 / 23:13
Während des Tages nur Lektüre. Zuerst weiter in Henzes „Englischer Katze“, dann die Literaturseiten der ZEIT vom 24. und in der Dezember Nummer 88 von ‚Sprache im technischen Zeitalter‘.
Im Funk immer noch das Tankerunglück vor Canada. Die Größe des Ölteppichs, – welch ein verniedlichendes Wort für eine solche Katastrophe -, wurde in den ersten Tagen mit 260 Quadratkilometern angegeben, dann schrumpfte er seltsamerweise auf 250 und später auf 200, was mir seltsam vorkam, heute hieß es nun, er sei 1500 Quadratkilometer groß und Beseitigung unmöglich. Wenn man das Radio einschaltet, so gerät man ohne Übergang in eine Welt der Desaster, die ganz selbstverständlich als Normalität mitgeteilt werden. Man bedauert das Geschehen zwar, doch hat man nicht den Eindruck, daß sich irgend jemand groß aufregt, während man eigentlich nur noch mit erhobenen Händen und laut „Nein! Nein! Nein!“ schreiend durch die Welt laufen möchte. Hilflosigkeit.Bert teilte mir heute mit, weshalb er plötzlich Englisch lerne, nachdem er es, unterstützt durch die Hamburger Schule, in den letzten Jahren eben nicht getan habe. Wir sprachen beim Frühstück im Garten von den Wahlerfolgen der Faschisten in Berlin, Frankfurt usw., er hatte sich bei mir mehrfach nach den Radionachrichten dazu erkundigt, hatte auch aus eigenem Antrieb den Spiegel Artikel darüber gelesen, was ich erst bei diesem Frühstücksgespräch erfuhr, und während ich in den vergangenen Tagen mit dem Gedanken umgegangen war, daß das eigentlich nichts bedeute, mich also beschwichtigt hatte mit der Ansicht, die BRD sei schließlich eine funktionierende Demokratie, die solche Herausforderungen leicht bewältigen könne, sagte er „deshalb lerne ich nun übrigens Englisch. Falls ich mal ins Exil gehen muss.“ Ich war perplex, konnte nicht anworten, weil ich plötzlich begriff, daß er sehr viel verstanden hatte und vielleicht weiter als ich blickte. Bert ist in seiner Einstellung viel radikaler Pessimist als ich. Manchmal habe ich den Eindruck, daß er beständig mit der Vorstellung des Unterganges lebt, und ich kann gar nicht fassen, daß er trotzdem noch ein relativ freudvolles und spontanes Leben für sich täglich realisiert. Eigentlich müßte er in tiefer Depression versinken. Ich selbst denke zwar ständig an den Untergang und schreibe darüber, doch glaube ich immer noch an Rettung, Umkehr, Vernunft, kann mir einen Atomkrieg nicht vorstellen, denke, daß sich alles irgendwie vermeiden, umgehen und begrenzen läßt. Während Bert ganz klar sagte: „Wir vernichten die Erde, selbst wenn kein Krieg kommt, den brauchen wir gar nicht. Die Wälder sind schon jetzt nicht mehr zu retten, die Meere verseucht usw.“ Es ist fürchterlich. Wir haben Kinder in die Welt gesetzt, die mit vierzehn Jahren gezwungen sind, in solchen Dimensionen von Vernichtung und Tod zu denken, den ganzen Erdball betreffend. Ich weiß gar nicht, wo er vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis z.B. die Kraft hernimmt, Latein zu pauken, diese tote Sprache.
In der BRD weitet sich der Hungerstreik der RAF-Gefangenen aus, man diskutiert wieder über Zwangsernährung wie schon vor Jahren. Ekelhaft.
Es geht dann weiter mit der Todesdrohung gegen Rushdie, aber das will ich hier nicht auch noch berichten. Ich kam mir bei der Lektüre dieser dreißig Jahre alten Zeilen eh vor, als stehe man heute mit dem Füßen in einem Abgrund aus Fürchterlichkeiten.
Ich weiß, es ist schwer, glücklich zu bleiben
versuchen Sie es trotzdem
Ihr PHG