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Nur eine Meinungsäußerung?

Im Roman „Wahn“ von Stephen King (Originalausgabe DUMA KEY), der in der deutschen Übersetzung 2008 erschien, findet auf Seite 91 der Taschenbuchausgabe folgender Dialog statt.

„Was machst du so? Wenn ich mal fragen darf?“
„Morgens trainiere ich. Lese. Nachmittags schlafe ich. Und ich zeichne. Irgendwann will ich es mit Malen versuchen, aber so weit bin ich noch nicht.“
„Für einen Amateur sehen manche deiner Sachen ziemlich gut aus.“
„Danke, Jack, sehr freundlich von dir.“

Die männliche Hauptfigur des Romans, Edgar Freemantle, der die Geschichte als Ich-Erzähler in der ersten Person erzählt, schließt an diesen Dialog die Reflexion an:

Ich wusste nicht, ob er nur freundlich war oder mir seine Version der Wahrheit sagte. Vielleicht spielte das keine Rolle. Geht es um Dinge wie Bilder, ist jedes Urteil immer bloß eine Meinungsäußerung, nicht wahr?

Stimmt das? Bloß eine Meinungsäußerung? Sollte es demnach so sein, dass es in der Kunst keine Kriterien gibt? Gibt es keine Maßstäbe zu ihrer Beurteilung? Ist das Urteil über Malerei, Literatur etc. der Beliebigkeit persönlicher, zufälliger Urteile anheim gestellt? Hätte also der Jack in der Geschichte auch sagen können: „Hör mal, ich finde das großen Mist, was du da zeichnest.“? Nun, das abschließende  „…, nicht wahr?“ in Freemantels Kommentar zeigt, dass der Ich-Erzähler zumindest etwas unglücklich mit diesem Urteil ist.

Aber ja, natürlich könnte Jack das sagen! Sagen kann man schließlich alles. Und wenn man es forsch genug tut, dann glaubt es am Ende gar jemand. Gibt es also gar keine Maßstäbe, die es erlauben, ihm zu sagen, lieber Jack, du hast Recht bzw. du redest Unsinn? Ist Kunst völlig subjektiv? Sind ästhetische Urteile beliebig?

Nein, das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. Tatsächlich ist es so, dass es einen ganz genau zu bestimmenden Kanon an Formen gibt, eine bis in die Details zu bestimmende Palette an Ausdrucksweisen, ein grundlegendes Organon gewissermaßen, einen Werkzeugkasten also der Kunst, des Malens, des Schreibens usw. Und die Tatsache, dass so viele Künstler des vergangenen 20. Jahrhunderts gerade damit beschäftigt zu sein schienen, dieses Organon aufzulösen und auf diese Werkzeuge zu verzichten bzw. sie zu deformieren, ändert daran gar nichts. Sie ist im Gegenteil überhaupt erst vor dem Hintergrund dieses zurückgewiesenen Bezugsrahmens verständlich.

Stephen King thematisiert am Beispiel von Freemantels Malerei Fragen, die weit über die episodische Tätigkeit seines Helden hinaus gehen. Und da Stephen King ein enorm guter Handwerker der Kunst des Schreibens ist, so steht zu vermuten, dass er damit auch Fragen seines eigenen Tuns thematisiert. Ich bin deshalb gespannt, wie er das tun und zu welchem Ergebnis er kommen wird. Dazu also demnächst vielleicht mehr.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker