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Die gekränkte Erinnerung

Sonntag, 10. November 2019, bei „This is Carla Bley. The essential tracks“ on Spotify
Statt zu leben, das ganz große Leben,
friedlich miteinander …. nichts als
überleben, ein Tag nach dem andern,
wie im Krieg? …. Ja, seit meiner Zeit
des Umherirrens bin ich bloß eine
Überlebende.
Peter Handke „Die Obstdiebin“

Dass uns die Erinnerung Welt und Leben schönredet, ist eine Banalität. Wie und bis wohin das aber geht, hat mir die gestrige Lektüre in meinem Rom-Tagebuch von 1989 gezeigt. Ich hatte ja geschrieben, dass ich mir überlege, ob ich diese Aufzeichnungen im kommenden Jahr veröffentlichen sollte. Inzwischen bin ich überzeugt, dass ich es tun muss, denn 89 war auch mein ganz persönliches Jahr der Wende. Nichts, aber auch gar nichts, hat mein Leben stärker ge- und verformt, als dieses Jahr in Rom. Und das Tagebuch gibt darüber in einer Art und Weise Auskunft, dass es mich zwingt, mein Leben neu zu bewerten.

Ich habe gestern, als ich dann endlich auch eine Gesamtdatei dieser Aufzeichnungen im Computer fand, erstmals überhaupt einen Ausdruck angefertigt. Ursprünglich lag der Text in 5 Dateien vor, die sich mein aktuelles WORD zu öffnen weigerte, obwohl es doc-Dateien sind. Es kam die Meldung, dass WORD die Dateien „blockiert“ habe. Das war ärgerlich, aber ich wertete das als notwendige Warnung, dass ich mir demnächst die Zeit nehmen muss, alle meine älteren Texte mit einem aktuellen Programm zu konvertieren, wenn ich sie nicht verlieren will. Zum Glück fand sich dann noch eine Datei mit dem Namen „Rom-TB-1-5“, in der ich zu einem späteren Zeitpunkt die ursprünglichen fünf Dateien zusammengefasst haben muss. Diese Datei ließ sich problemlos öffnen. Ich druckte sie aus, es waren 270 Seiten, und begann, obwohl ich das ursprünglich nicht beabsichtigt hatte, den mit einer Eintragung am 6. Januar 89 beginnenden Text zu lesen.

Fast übergangslos befand ich mich im Krieg, in dem Krieg, von dem die Handkesche „Obstdiebin“ spricht. So absurd es klingt, aber das, was das Wichtigste in meinem Leben war und ist, wurde als perfide Heimtücke interpretiert, die gegen die Familie gerichtet war. Aus einem sich plagenden und oft genug verzweifelten Schriftsteller war in den Augen meiner Frau ein Familienzerstörer geworden, ein Verrückter, den sie mit allen Mitteln bekämpfen durfte, obwohl sie Rom für sich nutzte, um ein Jahr Urlaub zu machen.

Okay, das hatte ich im Kern gewusst, denn soweit war meine Erinnerung unbenommen noch intakt, wenn ich auch, verständlicherweise?, die meisten konkreten Details verdrängt hatte. Was mich unter meiner Lektüre – bisher nur der ersten 80 Seiten – hingegen am meisten kränkte, das waren eher Kleinigkeiten, in den Augen Außenstehender zumindest. Etwa der Umstand, dass sich meine kleine Tochter, die ich stets am meisten geliebt hatte, von einem süßen Kind, dem ich unentweg Grimmsche Märchen vorlas, in ein quengelndes, nörgelndes, schreiendes Biest verwandelte, von der sogar der gutmütige Großvater schrieb, er höre immer noch ihr ständiges „Geblärre“, obwohl sie gar nicht da sei. „Königstochter, schönste“, hatte ich sie genannt. Und nun las ich, wie sie sich damals aufgeführt hatte. Konnte das wahr sein? Zumindest hatte ich es vergessen gehabt, auch wenn ich zugeben muss, dass es weit, weit besser zu ihrem späteren Verhalten passte, bis in das Erwachsenenleben hinein.

Ein anderes sind die Dinge, die zwar keine familiären Zusammenhänge, dafür aber geistige betreffen, die für mich nicht minder wichtig und deshalb in überraschender Weise kränkend sind. Ich habe mich mein Leben hindurch intensivst mit Literatur befasst, ich schreibe sie und schrieb immer auch über sie. So hätte ich bis vorgestern z.B. die Romane Wolfgang Koeppens ganz unzweifelhaft gelobt und bewundert. Aber nur bis vorgestern, denn gestern finde ich einen ausführlichen Verriss von Koeppens „Tod in Rom“ in meinem Tagebuch, in dem ich ihm die Klischeehaftigkeit seiner Figuren, insbesondere der Nazifiguren wie des ‚Onkel Judejahn‘, dann aber auch der Hauptfigur, des homosexuellen Komponisten Siegfried Pfaffrath, angelastet habe. Ich habe das Buch, das ich damals in Rom erneut gelesen habe, stark abgelehnt und diese Ablehnung ausführlich begründet. Erstlektüre war auf der Schule vor dem Abitur.

Mein Gott, habe ich gestern gedacht, bin ich denn in den vergangenen 30 Jahren so viel dümmer geworden, dass sich nicht nur mein Urteil von mir unbemerkt gewandelt hat, sondern dass ich nichtmal mehr wusste jemals so geurteilt zu haben. Dass ich, wie im Falle meiner Tochter, Gefühle zum positiven Ende der Skala verschiebe, das ist ja nachvollziehbar, so sehr es das sich sicher wähnende Gefühl auch verletzen mag, aber ein intellektuelles Urteil, das eben nicht auf Gefühl sondern auf konkretes Wissen um schriftstellerisches Handwerk baut, das kann sich doch nicht verflüchtigen wie die Spreu im Wind.

Kurz gesagt, für mich folgt daraus, dass ich dieses Tagebuch unbedingt veröffentlichen muss, nicht nur, weil es gut und wichtig ist, vielleicht gar interessant, sondern als Akt der Selbstkorrektur, bevor sich zum Ende meines Lebens hin alles irgendwie verschleift und damit überflüssig wird.

Nach diesem „Krieg“ von 1989 und seinen Folgen war ich so vernichtet, dass ich über 20 Jahre am Boden lag. Erst 2011 begann mein Autorenleben mit der Veröffentlichung des Romans „Calvinos Hotel“, an dem ich sechs Jahre geschrieben hatte, ein zweites Mal. Das allerdings macht mich glücklich.

bleiben Sie es auch
wünscht Ihnen Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker