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Ich bin gesund. Bin ich?

Freitag, 17. Mai 2019, bei Mozarts ‚Ascanio in Alba‘

Stehe so weit wie möglich ohne
Selbstaufgabe in freundlicher
Beziehung zu allen Menschen.

Seit Tagen Regen, tröste mich damit, dass das gut für die Blumen ist, die die Liebste im Garten ausgesät hat, auch natürlich für die zwei Bäumchen, die sie neu gepflanzt hat. Die alten Weinreben, die wir wegen des Mehltaus, der seit Jahren die Trauben befällt, ausreißen wollten, bleiben jetzt doch. J. war von dem frischen Grün der neuen Blätter so überwältigt, dass sie es nicht übers Herz brachte. Außerdem hängt genau daneben ein Brutkasten für Vögel, aus dem sie es plötzlich ein Piepsen hörte. Also werden da wohl Vogeljunge aufgezogen, die man nicht stören will.

Mir ist es natürlich arg, dass ich bei all dem nicht dabei sein und mittuen kann. Tatsächlich habe ich ja seit Dienstag vor Ostern die Wohnung noch gar nicht verlassen, außer um mich zu wechselnden Therapien transportieren zu lassen, was sehr unangenehm ist.

Am Donnerstag, dem 7. März, also noch keinen ganzen Monat nach dem Schlaganfall, schrieb ich in mein krakeliges handschriftliches Tagebuch: … der Preis für das Leben mit einer Krankheit ist schon sehr hoch. Ich habe mich ja nie als krank oder gar behindert begriffen, trotz der Augen, die beide ohne implantierte Linsen nicht zu sehen vermögen, trotz der Krebserkrankung und der deshalb seit dem Schicksalsjahr 2001 fehlenden linken Niere und auch trotz der 33 Jahre Diabetes nicht, der mich seit über zwei Jahrzehnten mit einer Insulinpumpe um den Hals herumlaufen lässt; immer habe ich gesagt „ich bin gesund“. Sollte jetzt von den Lähmungen der ganzen rechten Körperhälfte etwas zurückbleiben, so werde ich das nicht mehr sagen können.

(c) Jutta Schubert: Elektrostimulation

Um die „freundliche Beziehung zu allen Menschen„, von der Max Ehrmanns „Desiderata“ sprechen, vermag ich mich gegenwärtig außer gegenüber J. nicht zu bemühen. Ich sehe kaum einen Menschen. Andererseits kann ich wohl annehmen, dass es mir in der Vergangenheit nicht allzu schlecht gelungen ist, denn J. berichtet mir immer wieder, mit welch überraschender Anteilnahme die Menschen auf sie zukommen und sich nach mir erkundigen. Von Freunden, Nachbarn, Bekannten, ihren Schülern und den Handwerkern muss sie mir fast täglich Besserungswünsche und Grüße ausrichten. Das rührt und stützt uns sehr, zumal wir von Niedergeschlagenheit und zeitweiliger Verzagtheit durchaus nicht frei sind.

Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende
und die Kraft glücklich zu bleiben
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker