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Gehen durch Lärm und Hast

Freitag, 3. Mai 2019, bei Wagners ‚Ring‘ unter Böhm, Bayreuther Festspiele 1966/67
(c) Jutta Schubert

Gehe ruhig und gelassen
durch Lärm und Hast und
sei des Friedens eingedenk,
den die Stille bergen kann.

Max Ehrmanns Gedicht ‚Desiderata‚, dessen Anfangszeilen ich hierher gesetzt habe, begleitet mich nun schon etwa 40 Jahre lang durchs Leben, doch noch nie ist mir wie jetzt bewusst geworden, wie ungeheuer schwer die darin benannten Absichten und Ziele zu erreichen sind.

Zu Anfang der 1980er Jahre fand ich Ehrmanns Gedicht in einem sehr schönen farbigen Sonderdruck bei meinem Buchhändler Klaus Seifert in der Eppendorfer Landstraße, von dem ich damals nur dreivier Hausnummern entfernt wohnte. Seither gab es keines meiner Arbeitszimmer, in dem das Prosagedicht nicht seinen Platz gefunden hätte. Hin und wieder wechselte der Rahmen, hin und wieder kamen Jahre, in denen ich es weniger beachtete, dann las ich es wieder häufig und stellte fest, wie sehr ich die ersehnten Ziele verfehlt und sogar vergessen hatte.

Jetzt, nachdem ich aus der Klinik entlassen bin und vor den Trümmern meines Restlebens stehe, ist wieder solch eine Zeit angebrochen, und ich habe mir deshalb vorgenommen, der ‚Desiderata‚, der ersehnten Dinge, hier quasi meditierend zu gedenken. Zeile für Zeile, Satz für Satz.

Mit dem Gehen durch Lärm und Hast, ist es ja eine einfache Sache, denn wir sind täglich dazu gezwungen, können es gar nicht vermeiden und gehen oft genug darin unter. Wenn ich am Abend eines Tages anlange, so geht es mir oftmals, als sei ich den ganzen Tag hindurch unter Wasser gedrückt worden und könne jetzt erstmals wieder an die Oberfläche zurückkehren und nach Luft schnappen. Nur die Forderung es ‚ruhig und gelassen‚ zu tun, ist nicht leicht zu erfüllen. Im Gegenteil, wie oft macht mich auch heute noch der üble Zustand der Welt wütend, die Dummheit der Menschen, die Ignoranz allem und jedem gegenüber, mit der die meisten durchs Leben rutschen, die Seelenlosigkeit, mit der sie das Dasein zu einem Müllhaufen degradieren, ihre Kulturlosigkeit auf allen Gebieten und immer so weiter. Demgegenüber ruhig und gelassen zu bleiben, das hieße für mich, vorsätzlich blind und taub werden.

Unvergleichlich viel dringender bedarf es darum des Eingedenkseins der ‚Stille‚. Der Stille hat deshalb schon immer meine größte Sehnsucht gegolten, wissend, dass ich sie wohl erst ganz zum Schluss finden werde, wie ich es 2002, im Jahr nach meiner Krebserkrankung, in dem kurzen Gedicht ‚Schnee auf neuen Gipfeln‚ schrieb.

Schnee auf neuen Gipfeln
Vor dem Tod
will ich die Einsamkeit suchen
Bäume um mich haben
und in der Stille sein.

Trauere nicht.
Mit ruhigem Herzen werden wir
wenn die Wolken aufreißen
Schnee auf neuen Gipfeln sehen.

Es ist der einzige meiner Texte, der ins Chinesische übersetzt wurde. Ein Zen-Meister meldete sich damals bei mir und fragte um Erlaubnis, das Gedicht übersetzen zu dürfen.

Ja, viele Dinge sind schwer zu erreichen, die wichtigsten nehmen wir gar eines Tages als Sehnsucht mit uns auf die Fahrt in den Westen, in Abrahams Garten.

Bleiben Sie trotzdem glücklich
wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker