Zwischen den Welten der Lebenden und Toten
Samstag, 24. November 2018, bei alten Verdi-Aufnahmen z.Zt Aida – die Musik ist ja immer ein Trost.
… Gelobt sei die unendliche
Kette der Wirkungen und der Ursachen
die, bevor sie mir den Spiegel reicht,
in dem ich keinen sehen werde oder einen anderen,
mir diese reine Anschauung gewährt
einer Sprache des Morgens.
J.L. Borges aus: ‚Zu Beginn des Studiums der
angelsächsischen Grammatik‘
Regengrauer Novembertag, die Tropfen bilden am Balkongeländer unregelmäßige Perlenschnüre, und die Wachelstern wippen im nassen Geäst der Rotbuche vor meinem Fenster, die in den letzten Tagen alle Blätter abgeworfen hat.
Ich sitze, um ein kurzes Nachwort zu meiner Novellen-Sammlung „Isoldes Liebhaber“ zu schreiben, vor allem, weil ich darin etwas über die Novelle „Das Licht im Auge“ sagen will, was diesen Teil meines Schreibens mit Jorge Luis Borges verbindet oder doch zu verbinden scheint, wie einmal behauptet worden ist, obwohl es einen ganz anderen Anlass hat, der dazu auch noch ein rein biografischer ist. So etwas ist thematisch nicht leicht zu entwickeln, zumal es einen Abstieg in die eigene Vergangenheit erfordert, in diesem Fall um etwa drei Jahrzehnte. Ob es gelingen wird?
Am Freitag vor einer Woche starb, morgens um 15 Minuten nach 10 Uhr, die Mutter meiner Liebsten. So reisen wir in diesen Tagen auf dem Fluss der Trauer, der uns zwischen die Zeiten befördert hat; wir verwechseln Tage, Dinge, Handlungen, unsere Absichten, können uns schlecht orientieren und müssen besonders vorsichtig miteinander umgehen, um uns gegenseitig eine Hilfe sein zu können.
In der Nacht nach dem Tod meiner Schwiegermutter hatte ich eine Traum, in dem viele große exotische Schmetterlinge durch den Raum flogen und sich auf Tische und Bücher setzten. Ich nahm daraufhin eine der bunten Teetassen, die sie gesammelt hatte, fing damit einen Schmetterling nach dem anderen behutsam ein und trug sie auf den Balkon, wo ich sie in die Freiheit entließ. Ich hoffe, dass sie ihren Weg gefunden haben.
Dazu passt wohl auch, dass ich seit gestern kaum noch gehen kann. Ich legte mich gegen Mittag etwas hin, da die Erschöpfung mich dazu zwang, dämmerte wohl eine Stunde und bekam, als ich aufstand, einen Krampf im linken Bein, der mich auch heute noch nicht verlassen hat. Ich humpele nur unter gröbsten Schmerzen zentimeterweise vorwärts. Man begreift erst mit einem solchen Handicap, was für Wege man ganz alltäglich in einer Wohnung eigentlich zurücklegt.
Für meine Liebste ist der Tod der Mutter auch deshalb besonders schwierig, weil der Tod des Vaters gerade erst anderthalb Jahre zurückliegt und noch längst nicht bewältigt ist. Es wird lange dauern, bis ich sagen kann:
Denn siehe, der Winter ist vergangen,
der Regen ist weg und dahin;
die Blumen sind hervorgekommen,
der Feigenbaum hat Knoten gewonnenen …
Steh auf, meine Freundin, und komm,
meine Schöne, komm her!
Für mich war es, abgesehen von der Liebsten selbst, die einzige Familie, die ich noch hatte, nachdem zuletzt meine Mutter zu Dezemberbeginn 2015 verstarb.
Mögen alle lebenden Wesen von Leiden frei sein.
wünscht
Ihr PHG