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Das Maskengesicht

Dass das Maskengesicht überhaupt ein Tier ist, würde es mit der ihm eigenen Arroganz ebenso abstreiten, wie dass es eine Maske ist. Natürlich besteht es darauf, das eigentliche Gesicht seines Trägers zu sein! Dies ist der eine unverwechselbare Charakterzug des Maskengesichts. Der andere ist, dass das Maskengesicht die Dichter hasst. Davon wird noch zu sprechen sein.

Das Maskengesicht hat sich als hauptsächliches Biotop die Krankenhäuser und Amtsstuben ausgesucht. Zwar sind einige sogar bis an den Frühstückstisch von alten Ehepaaren vorgedrungen, tummeln sich auf dem Antlitz berühmter Schauspieler, den Zügen eines Talkmasters im Fernsehen oder auf denen von Erziehungsberechtigten, die mit ihren Kindern schelten, aber in der Hauptsache, wie gesagt, sind es die Ämter und Kliniken, in denen die Maskengesichter ihr Auskommen finden. Hier werden sie gebraucht, ja, hier sind sie unentbehrlich, denn hier sind sogar diejenigen, die unter ihnen zu leiden haben, so sehr an sie gewöhnt, dass sie zu jeder Zeit erwartet werden. Wenn die Ärzte mit ihren Patienten zu sprechen vorgeben, wenn sie ihnen etwas zu erklären behaupten, wovon sie selbst als letzte glauben und wollen, dass es verstanden wird, dann legen sich die Maskengesichter ungefragt auf die Mienen der Sprechenden und verhindern, dass dieser ganze empörende Vorgang als das offenbar wird, was er ist. Schon die kleinste Hilfsschwester im ersten Ausbildungsjahr bemüht sich deshalb unaufhörlich darum, sich ein solches Maskengesicht zu verdienen und bewundert die jungen, schmucken Stationsärzte in ihren gebügelten weißen Kitteln, denen das ihre so überaus makellos zu sitzen scheint.

Verglichen mit den Maskengesichtern der Ärzte sind diejenigen der Beamten auf den Finanz-, Sozial- und Arbeitsämtern, um nur die wichtigsten zu nennen, selbstverständlich minderwertig, da meist bereits fadenscheinig und zerschlissen; zu viele Planstelleninhaber müssen sich schon lange in die wenigen dort vorhandenen teilen. Aber darum sind sie selbstverständlich nicht minder notwendig. Und sie sind auch trotz all ihrer Löchrigkeit wirksam, wenn es darum geht, all die Bittsteller, die Tag für Tag vor ihren Schreibtischen, mit nichts als dem eigenen, peinlichen Elendsgesicht, auftauchen, in die Schranken zu weisen.

Kurz gesagt, das Maskengesicht ist unentbehrlich, weiß darum und ist von nichts so überzeugt wie von sich selbst. Tatsächlich hält es sich, wenn es seinem Träger eine gewisse Zeit gedient hat, unausweichlich für das eigentliche Gesicht.

Damit hängt auch zusammen, dass ihm die Dichter so verhasst sind. Dies hat drei Gründe. Erstens sind die Dichter die einzigen Menschen, die die Maskengesichter nicht benötigen, denn jeder Dichter hat ein ganz eigenes Gesicht, und es fiele ihm gar nicht ein, es herzugeben oder gegen ein Maskengesicht einzutauschen. Zweitens erkennen die Dichter die Maskengesichter der anderen und geben sie der Lächerlichkeit preis, die sie zu verdecken suchen. Und drittens, dies ist für die Maskengesichter der hassenswerteste Punkt, durchschauen die Dichter die Maskengesichter und verraten den Menschen mitunter, dass sich in Wahrheit nichts hinter ihnen verbirgt, dass hinter ihnen die Leere lauert, die vollkommene Abwesenheit von allem, was der Mensch braucht, um als Mensch leben zu können.

Was ihnen in dieser Hinsicht von den Dichtern droht, haben die Maskenge-sichter wohl niemals so deutlich gespürt wie im Jahre 1910, als der Dichter Rainer Maria Rilke seinen Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ veröffentlichte, worin er aller Welt verriet, was der Held seines Buches erlebt hatte. Er hatte in der Stadt eine Frau gesehen, die ihr Gesicht, während sie nach vorn zusammengesunken dasaß, in die Hände gesenkt hielt. Dann geschah folgendes, er schreibt: „Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengungen, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.“

Das, wovor Malte Laurids Brigge hier den Blick abwandte, ist die Wahrheit, deren Bekanntwerden die Maskengesichter so sehr fürchten. Natürlich kann das nicht alle Zeit gut gehen. Und wenn der Tag kommt, da man sie vertreibt, wird es niemanden geben, der ihnen verzeiht. Außer den Dichtern vielleicht.

(c) Peter H. Gogolin, aus „Lexikon der imaginären Tiere“


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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker