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„Nein danke, jetzt nicht.“

Sonntag, 6. Mai 2018, bei Bellinis 'I Puritani'
(mit der Callas natürlich)

1999, wenige Monate nachdem man ihm den Nobelpreis verliehen hatte, stand José Saramago im Bad und war dabei, sich zu rasieren, als das Telefon ging. „Er hielt den Hörer an die noch nicht eingeseifte Backe“, schreibt seine Frau Pilar del Río, „und sagte nicht viel: ‚Tatsächlich? Das kommt überraschend. Machen Sie sich keine Umstände, ich bin in einer knappen halben Stunden da.‘ Er legte auf. So schnell war er noch nie im Bad fertig. Dann sagte er zu mir, er wolle einen Roman abholen, den er Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre geschrieben habe und der seitdem verschollen gewesen sei. Als er zurückkam, hatte er ‚Clarabóia‘ unter dem Arm, das heißt einen Stapel mit der Maschine beschriebener Blätter, weder vergilbt noch beschädigt, vielleicht weil die Zeit dem Manuskript gegenüber mehr Respekt bewiesen hatte als die Menschen, denen es 1953 zugegangen war.“

Die Liebste und ich waren gestern, bevor sie am Nachmittag nach Stuttgart fuhr, noch in der Stadt und nutzten eine halbe Stunde, um bei einem unserer bevorzugten Buchhändler etwas zu stöbern. Sie fand, wie ich später, nachdem ich sie zum Zug gebracht hatte, in ihrer Tragetasche sah, vier, fünf Bücher, ich hingegen nur eines, das es allerdings in sich hat. Es ist eben der 2013, Jahre nach seinem Tod, doch noch in deutscher Übersetzung erschienene Roman „Clarabóia – oder Wo das Licht einfällt“, den Saramago 1999 zurück erhielt, nachdem er ihn für verloren gehalten hatte.

Seine Frau schreibt: „Es wäre dem Verlag eine Ehre, das bei einem Umzug gefundene Werk zu veröffentlichen, sagte man José Saramago in jenen Tagen des Jahres 1999 …. ‚Nein danke, jetzt nicht‘, antwortete er und verließ den Verlag, mit dem wiedergefundenen Roman und endlich der Antwort, die man ihm siebenundvierzig Jahre zuvor, als er einunddreißig und voller Träume war, verweigert hatte.“

„Das damalige Verhalten des Verlages hatte ihn“, schreibt Pilar del Río, „in leidvolles, unabänderliches, Jahrzehnte währendes Schweigen versinken lassen.“

Als ich an dieser Stelle des Vorwortes angelangt war, begann ich unwillkürlich zu weinen. Panya, mein thailändischer Fußpfleger, der gerade mit einer Druckstelle an meinem rechten kleinen Zeh befasst war, blickte entsetzt zu mir auf und machte erst weiter, als ich ihm sagte, dass nicht er der Grund meiner Tränen war. Er ist ein feinfühliger Mann.

Tatsächlich hat José Saramago damals zwei Jahrzehnte hindurch nicht mehr publiziert. Diese riesige Lücke in seinem frühen Werk ist bekannt, ohne dass sie jemals begriffen worden ist. Noch in dem heute von mir überprüften WikiPedia-Eintrag heißt es dazu: „Er schrieb noch einen weiteren, unveröffentlichten Prosatext, Clarabóia. Weitere Schreibversuche führten ihn zu dem Schluss „… dass ich nicht Lohnendes zu sagen habe“. Die nächsten 19 Jahre bis 1966 veröffentlichte er daraufhin nichts mehr.“ Wie peinlich, da wird der Roman sogar auf einen ‚unveröffentlichten Prosatext‘ reduziert, als habe der spätere Nobelpreisträger quasi aus der Selbsterkenntnis, dass er nichts zu sagen habe, aus freien Stücken entschieden, zwei Jahrzehnte nichts mehr zu veröffentlichen. Das ist eine Frechheit, ganz schlicht gesagt.

Saramagos „Clarabóia“ ist vielleicht ein Frühwerk, aber dieser Begriff scheint mir gar keinen Sinn zu haben, angesichts der Großartigkeit dieser Prosa, außer dem vielleicht, dass der Autor damals knapp dreißig Jahre alt war, bevor das Schweigen des Verlages ihn für zwei Jahrzehnte verstummen ließ.

Als er gestorben war, bedankte sich seine Heimatstadt bei ihm.

In den Jahren nachdem das Manuskript wieder in seine Hände gelangt war, scheint es einige Leser aus Saramagos privatem Umkreis gegeben zu haben, die es lesen konnten und dringend zur Publikation rieten. „Aber José Saramago weigerte sich beharrlich“, schreibt seine Frau, „und sagte, zu seinen Lebzeiten werde das Buch nicht erscheinen.“

Die Kränkung muss sehr tief gewesen sein.

Die Richtschnur seines Leben sei gewesen, schreibt Pilar del Río: „Niemand ist verpflichtet, einen anderen zu lieben, aber wir alle sind verpflichtet, einander zu achten.“

„Nach dieser Logik befand Saramago“, schreibt sie, „kein Verlag sei verpflichtet, die dort eingereichten Manuskripte zu veröffentlichen, wohl aber habe er die Pflicht, dem eine Antwort zu geben, der Tag für Tag, Monat für Monat ungeduldig, ja sogar ruhelos darauf wartet, denn das eingereichte Buch, das Manuskript, ist mehr als ein Stapel Blätter, darin steckt ein ganzer Mensch mit seiner Intelligenz und seiner Sensibilität.“

Man habe es dann nicht mehr gewagt, ihn hinsichtlich einer Publikation des Manuskriptes zu bedrängen. „Wir befürchteten, dass die Demütigung, die es für den jungen Saramago bedeutet hatte, nicht einmal ein paar schlichte Zeilen erhalten zu haben: ein kurzes, förmliches „Unsere Programmplanung ist abgeschlossen“, jedes Mal wieder aufbrechen würde, sobald die Rede auf das Buch käme. Also drängten wir ihn nicht weiter zu einer Veröffentlichung.“

Gut, nicht gut, auf jeden Fall lese ich seither dieses Buch. Ich lese es noch viel intensiver, – wie das sein kann, weiß ich nicht -, als die anderen Bücher Saramagos, die ich über die letzten zwei Jahrzehnte gelesen habe. Und ich habe mir als nächstes aus unserer Sammlung bereits „Das Evangelium nach Jesus Christus“ auf den Stapel der demnächst zu lesenden Bücher gelegt. Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass Portugal und Brasilien bzw. die Literatur dieser Länder, der Hallraum ist, in dem sich mein Roman Der Mann, der den Regen fotografierte bewegt.

„Clarabóia“ ist für mich allerdings auch noch aus einem ganz anderen Grund wichtig, und ich addiere es hier, obwohl ich weiß, dass ich meine Leser damit nerven werde, weil ich sie überfordere. „Clarabóia“ ist ein literarisches Beispiel für das, was Arno Schmidt als „Großhauswelten“ bezeichnet hat. Es ist nämlich die Geschichte eines Lissabonner Wohnhauses und seiner Bewohner. Saramago wechselt in einer quasi fließenden Erzählweise von einem Stockwerk, von einem Bewohner zum anderen, und er tut es auf eine solch selbstverständliche Art, dass man es nur meisterhaft nennen kann – auch das ist für mich ein Merkmal, das das Buch weit über den Rahmen eines Jugendwerkes hinaus hebt.

Großhauswelten, man möge die Zusammenhänge bei AS nachlesen, gibt es in der deutschen Literatur nicht so arg viele, abgesehen von den Anderswelt-Romanen des Alban Nikolai Herbst. Erwähnt werden muss gerade aus diesem Grunde Manfred Essers „Ostend-Roman“, den ich prompt erinnerte, als ich auf dem Behandlungsstuhl meines Fußpflegers saß und mich in Saramagos Buch einlas.

Vermutlich ist Manfred Esser längst vergessen. Für mich war er 1978, als sein Roman bei März erschien, die deutsche Avantgarde des Romans.

Elf Jare später, 1989 besuchte ich ihn. Damals lebte ich in Rom, in der Villa Massimo, und über die Direktorin erfuhr ich, zufällig?, dass Esser am Nemi-See wohnte, kaum dreißig Kilometer südöstlich von Rom in den Albaner Bergen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann war ich nicht mal angemeldet, doch Esser hatte mich erwartet und war ein sehr angenehmer Gastgeber.

Freilich waren wir in literarischer Hinsicht nicht in die gleiche Spur zu bringen. Ich finde es heute selbst etwas witzig, aber statt das „Großhausmodell“ seines Ostend-Romans einfach nur zu loben fragte ich ihn, wie es auf andere Erzählmodelle zu übertragen sei. Ich wollte es fortentwickeln. Er hatte damit hingegen bereits einen Endpunkt erreicht.

Wir hatten dann aber trotzdem einen schönen Tag, sein Grappa war köstlich, wir gingen am See spazieren und pflückten im Gehen Wald-Erdbeeren, kleine Köstlichkeiten, die sich unter den Schatten der östlichen Hänge verbargen.

Natürlich gingen wir zum Quell-Heiligtum der Diana-Nemorensis, und Esser beklagte sich, dass Touristen Münzen in die Quelle warfen. Vermutlich stimmte ich ihm zu, frage mich heute aber, wie wir die alten Göttern denn ehren sollen, wenn wir uns nicht, wie alle Welt, entschieden haben, sie zu ignorieren; und das tue ich nie.

Esser starb bereits 1995, kaum 5 Jahre nachdem ich aus Italien zurück war, er wurde gerade mal 57 Jahre alt. Alles, was ich heute als mein Werk benennen würde, also ab  „Calvinos Hotel“ in 2011, ist nach seinem Tod erst entstanden.

Nun, ich habe damit begonnen, auf Saramagos Roman „Clarabóia“ hinzuweisen, und ich möchte damit auch enden. Es ist mir, unter dem Eindruck der Lektüre, wirklich sehr dringend. Lesen Sie Saramago! Es gibt keine Schwierigkeiten, wenn man Saramagos Bücher lesen möchte. Er hat für Sie geschrieben, wirklich. Saramago handelt von Ihnen – oder anders gesagt: Er handelt von uns Menschen, die wir permanent Gegenstand der Geschichte werden, von uns, wenn wir begreifen, dass die Ereignisse der Geschichte nichts Äußerliches sind, sondern mitten durch unser Herz hindurchgehen. Lesen Sie Saramago. Sie verraten sich selbst, wenn Sie es nicht tun. Und ja, vielleicht lesen Sie auch Manfred Essers „Ostend-Roman“. Es gibt das Buch noch im Antiquariat.

 

 

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker