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Erzählungen, die ich nicht geschrieben habe

Venedig, Dienstag, 6. Februar 2018, bei Bruckners
5. Symphony unter Barenboim
Die Menschen dort am Strand
sehn alle in eine Richtung.
Dem Lande abgewandt sehn sie
den ganzen Tag aufs Meer.
Robert Frost: Weder weit noch tief

Die Dinge gehen nie geradlinig voran, wie immer wollte ich schon viel weiter sein, nun sitze ich an einem grauen Nachmittag und versuche den Rückstand im Kopfe zu drehen und zu wenden, damit  er weniger Staub ansetzt.

Dazu gehören vor allem drei Arbeiten, mit denen ich seit Jahresbeginn befasst bin. Meine Novelle „Er kommt erst am Abend zurück“, die nur noch ein abschließendes Kapitel braucht bzw die zweite Hälfte dieses Kapitels, sodass dann meine Sammlung von drei Novellen fertig wäre und publiziert werden könnte. „Isoldes Liebhaber“ wird die Sammlung heißen. Dann zweitens der neue Roman, den ich zu Januarbeginn angestoßen habe. Und drittens die Übersetzung, für die ich mir den Arbeitsplatz auf dem Stehpult eingerichtet habe.

Letzteres eine Liebesarbeit, mit der ich mir die Tage bis zu meinem Tod zu vertreiben gedenke. Vielleicht wird es noch dreitausend solcher Tage geben, vielleicht, wenn die Götter mir geneigt sind, fünftausend, sechs nicht. Und das heißt, bei einem solch großen Werk, naturgemäß, dass jeder Tag, an dem ich nicht übersetze, ein verlorener Tag ist.

Nun, verlorene Tage. Sie sind unvermeidlich, weil einem schließlich immer wieder das Leben dazwischen kommt, ganz gleich wie und was man plant. Andererseits gibt es von diesen verlorenen Tagen in meinem Leben eh viel zu viel. Ich könnte, analog zu Handke, einen „Versuch über den verlorenen Tag“ schreiben. Vielleicht sollte ich das sogar tun. Es wäre sicher etwas, das Autoren sonst aus ihrer Lebensreflexion gern ausschließen, und natürlich wäre auch mir ein „geglückter Tag“ weit lieber, doch wäre er mir gemäß? Nein, eher käme es mir zu, über den verlorenen Tag zu schreiben.

Ich komme darauf auch deshalb, weil ich heute ein Telefonat mit einer Freundin geführt habe, die es auf sich genommen hat, mich für ein interkulturelles Netzwerk zu interviewen, um mich dort als Autor, aber zugleich auch einfach als Mensch, der etwas über sein Leben in der Welt erzählen soll, vorzustellen. Solche Gespräche und noch mehr die Selbstauskünfte, die man, mehr oder weniger gern, bereit ist, von sich zu geben, regen zum Nachdenken über sich selbst an. Und dass ich dabei prompt auf die verlorenen Tage komme, wenn ich an meine Arbeit denke, das zeigt die Dringlichkeit dieses Themas. Tatsächlich gibt es ja unter meinem Schreibtisch, in der Nähe meines rechten Fußes, einen ganzen Aktenordner mit dem Titel „Erzählungen, die ich nicht geschrieben habe“. Darin befinden sich lauter Entwürfe, Kurzfassungen von Inhaltsangaben, auch Anfänge, die im Grunde nur weitergeschrieben werden müssten, aber über die erste halbe oder die ersten anderthalb Seiten, mitunter auch über die ersten fünf oder sechs nicht hinausgekommen sind, weil irgendwie das o.a. Leben dazwischengekommen ist. Es sind wohl so zwischen zwei und drei Dutzend Stoffe. Nichts davon wird jemals beendet werden.

Aber man stelle sich die Welt vor, wie sie aussähe, wenn alle Handlungen in der Geschichte zu ihrem finalem Ziel gelangt wären. Müssen wir nicht glücklich sein, dass so vieles nur Absicht blieb oder auf halbem Wege scheiterte? Die Welt wäre besser, wenn es mehr davon gäbe. Ich denke natürlich vor allem an weniger harmlose Dinge, als es die ungeschriebenen Geschichten eines Autors sind, dem hin und wieder ein Tag, den er anders geplant hatte, unter den Händen verloren geht.

Ich wünsche Ihnen glücklich verlorene Tage

Ihr PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker