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Das Gripsholmer-Notizheft und meine drei Leben

Wiesbaden, Samstag, 25. November 2017, grauer Tag, drüben in  Mainz liegt ein Streifen Sonne,
bei Verdis selbst von mir selten gehörter Oper "Jerusalem", mit dem L'Orchestre de la Suisse
Romande, unter Fabio Luisi

Früh auf und direkt nach dem Frühstück Kleinigkeiten einkaufen gewesen, vor allem die Zeitung für die Schwiegermutter, die ich ihr am Sonntag bringen werde, wenn ich mit ihr in die Kirche gehe. Auf dem Weg unangenehm kalt und windig, ging trotzdem zu Fuß. Später dann die Endredaktion der Besprechung über die Gedichte von Giorgos Seferis, die ich an Cultureglobe schickte, wo sie Montag erscheinen soll, dann auf meiner eigenen Seite eingestellt und den Verlag informiert. Danach die Toilette geputzt.

Ja, und dann konnte ich nicht mehr ausweichen, nämlich dem nicht, was ich am gestrigen Abend gefunden hatte.

In den Regalen mit den Notizheften fand ich dieses, das ich sicher 20 Jahre nicht mehr in der Hand gehabt habe. Es ist das sogenannte „Gripsholmer -Notizheft“, das mit einer Notiz vom 1. Juni 1991 beginnt und vom Besuch in meinem Geburtshaus in Schleswig-Holstein berichtet. Ich erinnerte mich, dass ich es auf der Schwedenreise gekauft hatte, auf der ersten wirklich großen Reise, die die Liebste mit mir unternommen hatte. Hier ist die Reihenfolge mal keine Höflichkeit sondern entsprach den Tatsachen, denn ich war nur widerwillig gefahren. Die Liebste hatte mich dazu fast zwingen müssen.

Wir hatten dann auch den Ort besichtigt, in dem Kurt Tucholsky im Exil gelebt und sich letztlich umgebracht hatte; er erhängte sich. Es war ein kleines Museum angeschlossen, in dessen Shop ich dieses Heft kaufte. Es kostete damals 33,– Kronen, wie immer noch mit schöner Bleistiftschrift hinten im Heft vermerkt ist. Beerdigt ist er in Gripsholm.

Von den insgesamt 142 Seiten, die ich selbst, wie immer, handschriftlich paginiert habe, sind genau 110 beschrieben. Die letzte Eintragung datiert vom 30. September 1995. Ich habe es also genau 4 Jahre und 4 Monate benutzt. Warum nicht länger, das weiß ich nicht. Es wird etwas passiert sein, das zu einem Abbruch der Arbeit geführt hat. Wäre interessant (für mich freilich nur) das Anschlussheft zu finden und zu sehen, wie groß die zeitliche Lücke ist, vielleicht wäre dann der Grund nachvollziehbar. Aber das sind Formalia.

Und wenn es nur das wäre, so würde ich nicht darüber schreiben. Dass ich es tue, liegt an den Seiten 90 und 91, auf denen es, als ich blätterte, wie von selbst aufklappte.

Auf Seite 90 steht, anfangs rot unterstrichen, das Notat „Träume, die noch für ‚Nachrichten aus einem fernen Land‘ übernommen werden müssen:“

Dann folgt, in Stichworten freilich nur, der erste Traum, vom 18. auf 19. August 1992 geträumt.

Ich sollte in einem Krematorium verbrannt werden. Gasflammen, die eine kühle Wärme durch meinen Körper schickten. Debatte über Skelett und Asche. Mein Satz zu J., die links daneben saß: Du hast meinen Begriff von Individualität nie verstanden.

Die danach folgende Kurznotiz zur Nacht darauf, also vom 19. auf den 20, August, handelte von Thomas Bernhard nach seinem Tod. Er war drei Jahre zuvor gestorben, die Liebste hatte ihn gekannt.

Nun, wie auch immer, es erübrigt sich wohl anzumerken, dass beide Träume über das stichworthafte Stadium nie hinaus kamen und den Eingang in das Manuskript „Nachrichten aus einem fernen Land“ niemals gefunden haben. Das Projekt der „Nachrichten“ selbst wurde dann irgendwann aufgegeben. Daran ist vermutlich kein Schaden, für mich nicht, und für die Welt, naja, das weiß man.

Aber die folgende Seite 91 stürzte mich dann doch sehr massiv auf einen so zentralen Schmerzpunkt meines Lebens, dass ich nach Luft schnappen musste. Da steht als erste Notiz:

Zusammenhang zwischen dem sozialen Tod Primitiver, die von ihrem Stamm tabuisiert werden, und der Lebenssituation Geschiedener untersuchen. Die Welt schweigt dich zu Tode. Und gleichsam als Analyse darunter die Eintragung:

Andererseits scheint es eben auch so zu sein, daß ich die Situation eben als sozialen Tod auffasse. Ich träume nur noch vom Tod, d. h. mein Unterbewußtsein will mir sagen, daß ich tot bin.

Und ganz unten auf der Seite, gleichsam als genaue Gegenposition zu der Haltung, die ich zum Thema „Erinnerung“ inzwischen seit Jahren einnehme, steht da der Satz:

Die Erinnerung ist ein lähmendes Gift.

Heute halte ich die Erinnerung für einen Schatz und einen Segen, ohne Erinnerung, würde ich behaupten, ist gar kein selbstbestimmtes Leben möglich. Und eine Arbeit als Schriftsteller sowieso nicht.

Ich will das hier gar nicht weiter untersuchen, nur so viel, dass mir dadurch bewusst geworden ist, gegenwärtig mein drittes Leben zu leben. Drei Leben, also bisher zwei  Tode. Das erste Mal starb ich damals, zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen 20. Jahrhunderts. Das zweite Mal etwa zehn Jahre später, als ich an Krebs erkrankte und ohne meinen Bruder Frank und meine Liebste sicher nicht ins Leben zurückgefunden hätte. Es war freilich jedes Mal ein anderes Leben. Der, der danach lebte, war jedes Mal ein anderer, als der Gestorbene.

Zu Beginn meines dritten Lebens, als ich endlich begriff, dass ich wieder ein Leben hatte – so etwas dauert ja einige Zeit – kam das Glück über mich. Will sagen, seither bin ich glücklich, so konstant, dass nicht vorstellbar ist, es könne sich ändern.

Und das wünsche ich auch für Sie,
bleiben Sie also glücklich
Ihr PHG

 

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker