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Aufs Handy schauen! Leben in der Rest-Demokratie

Wiesbaden, den 22. November 2017, bei strahlendem Sonnenschein und inzwischen 19 Grad,
mit Youri Egorov am Klavier
„Hoffentlich fällt die Macht eines Tages
allen Menschen auf den Wecker.“
(schrieb Vlado Kristl in seine ‚Sekundenfilme‘,
schrieb Theweleit in seinem ‚Buch der Könige‘)

 

Es gibt ja viele, meist irgendwelche Intellektuelle (oder die sich dafür halten), die sich darüber aufregen, dass alle Leute ständig in ihr Handy glotzen. Tun Sie das nicht, denn es ist ganz falsch. Vielleicht wird es in sehr naher Zukunft sogar die einzige Überlebensmaßnahme sein, die uns noch bleibt.

Schauen Sie, die Überwachung im öffentlichen Raum ist ja inzwischen flächendeckend geworden. Wir wissen das alle, und wir nehmen es hin, weil es uns ja vor den bösen Terroristen beschützt. Alles klar. In China ist das System der gesellschaftlichen Überwachung inzwischen schon so weit, dass man jede Handlung, geschäftliche Transaktion, jede Stimmung, jede Art von Verhalten des Einzelnen kontrollieren, aufzeichnen und bewerten kann, sodass dafür Punkte vergeben werden können. Jeder kann dort jederzeit auf seinem Handy nachschauen, wie sein persönlicher Punktestand im Ranking der staatlichen Anpassung ist.

Bei einer Überwachung im öffentlichen Raum ist es aber nun natürlich erforderlich Algorithmen zu haben, die das Verhalten der Menschen auch tatsächlich zu erfassen und zu bewerten vermögen. Es nützt nichts, nur Kameras laufen zu lassen, wenn am anderen Ende lediglich müde Beamte vor den Bildschirmen hocken, die auf den Feierabend warten.

Eine der entscheidendsten Aufgaben ist deshalb, die Abweichler zu erkennen, die, die sich nicht wie alle anderen verhalten, und alle anderen schauen heute nun mal halt auf ihr Handy. Wenn Sie das nicht tun, dann sind Sie schlecht dran, dann sind Sie nämlich auffällig. Wenn alle aufs Handy schauen, was tut dann mutmaßlich derjenige, der das nicht tut? Denkt der sich gerade ein neues Gedicht mit freien Rhythmen aus? Vermutlich doch eher nicht?

Wohin schaut der? Ach, er schaut sich ein Gebäude an. Dass er Architekturstudent ist, das können wir schnell ausschließen. Aber wie wäre es mit einem Anschlag, in eben diesem Gebäude? Früher, in den romantischen Romanen, hat sich der böse Übeltäter eine Kapuze über den Kopf gezogen. Das wäre heute so total blöd, dass es selbst Anfänger nicht mehr tun, aber wie weit die Anpassung an die Allgemeinheit tatsächlich gehen muss, um nicht aufzufallen, das ist zumindest in unseren Breiten, in denen wir ja glücklicherweise noch in einer Rest-Demokratie leben dürfen, kaum jemandem bewusst.

Und das ist gut so, es soll ja auch niemandem bewusst sein. Adam Smith, der Begründer der klassischen Nationalökonomie, hat den Begriff der „unsichtbaren Hand“ geprägt. Wenn politische Kontrolle und die Lenkung ganzer Bevölkerungen effektiv sein soll, dann darf sie nicht in zu deutlich erkennbarer Weise durchgeführt werden. Die „unsichtbare Hand“ ist deshalb das absolute Ideal aller Kontrollfreaks, ob nun in der Politik, den Sicherheitsbehörden, der Werbung usw.

Also, wenn Sie sich keinen falschen Verdächtigungen aussetzen wollen, so sollten Sie sich tunlichst bemühen, wie alle anderen in ihr verfluchtes Handy zu starren.

Sie wissen ja, selbst wenn man nicht paranoid ist, dann heißt das noch lange nicht, dass die nicht hinter Ihnen her sind. Handy vor die Augen und glücklich bleiben

rät Ihnen Ihr PHG

PS: Nachtrag für die Überwacher: Dies ist, auch falls Sie es nicht verstehen, ein Satire. Oder wie Benjamin Britten über sein „War Requiem“ sagte: „My subject is War, an the pity of War. The Poetry is in the pity. All a poet can do today is warn.“

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker