Das Kuchenbacken und die Literatur
Wiesbaden, Mittwoch, 15. November 2017, bei strahlendem Sonnenschein und blassblauem Himmel, während der große Österreichische Pianist Walter Klien das komplette Werk für Soloklavier von Johannes Brahms für mich spielt. Ein gesegneter Tag also.
Mein Vater war ein begnadeter Kuchenbäcker. Obwohl er sonst im Haushalt nicht half und niemals kochte, war das Backen ausschließlich ihm vorbehalten. Und es gelang ihm alles, selbst aufwändigste Torten. Als kleiner Bub habe ich mich nicht gefragt, warum sein Kuchen stets gelang; es reichte mir, am Tisch zu sitzen und ihm zuzusehen, und hinterher natürlich die Teigschüsseln auskratzen zu dürfen. Hätte man gefragt, so wäre die Antwort wohl ähnlich gewesen wie die meiner Schwiegermutter. Sie gibt Freundinnen und Bekannten gern mal ein Rezept, wenn die ihren Kuchen zu sehr bewundern. Regelmäßig kommen die dann zurück und klagen, dass der Kuchen bei ihnen aber nicht so geworden wäre. Meine Schwiegermutter sagt dann mit Verschwörermiene: Dann wirst du dich nicht genau an das Rezept gehalten haben. Und genau das ist dann auch stets der Fall.
Beim Kochen ist das anders. Natürlich kann man auch nach Rezept kochen. Und jeder, der das Kochen lernen will, der fängt auch so an. Aber er wird schnell schon dazu übergehen, es nicht mehr so genau zu nehmen, mal was anderes auszuprobieren, zu improvisieren, weil ihm etwas an den Zutaten fehlt oder weil er plötzlich eine Idee hat, die sich mit etwas anderem umsetzen lässt. Und oft kommen dabei die schönsten Variationen und sogar neue Gerichte, Geschmacksrichtungen usw. heraus. Und große Köche, die erfinden unter Umständen ganz etwas Neues. Wer beim Backen so vorgehen wollte, der wäre zum Scheitern verurteilt, weil der Kuchen gar nicht aufgeht oder zusammenfällt, viel zu trocken oder zu matschig gerät und immer so weiter. Vermutlich kennen Sie das alles.
Und was hat das jetzt mit der Literatur zu tun? Nun da ist es halt genauso. Glauben Sie nicht? Okay, ich fange nochmal an, aber etwas abstrakter bzw. allgemeiner: Im Grunde sind fast alle menschlichen Tätigkeiten, soweit sie mit handwerklichen Fertigkeiten zu tun haben, wie das Kuchenbacken. Wir befolgen dabei ein Rezept. Im heutigen digitalen Zeitalter könnte oder sollte man vielleicht besser von einem Algorithmus sprechen. Computerprogramme sind Algorithmen. Algorithmen sind nichts anderes, als möglichst genaue Handlungsanweisungen, die man Schritt für Schritt abarbeiten muss, um zum Ziel zu kommen. Ein Rezept für Schokokuchen ist ein Algorithmus. Der Mensch richtet sich seit tausenden von Jahren bereits nach Algorithmen. Und wir würden z.B. einen Architekten, der das nicht tut und stattdessen unser neues Haus baut, indem er frei improvisiert zum Teufel jagen.
Es gibt nur ein einziges Gebiet menschlicher Tätigkeit, bei der das nicht so ist. Das ist das Gebiet, auf dem manchmal sogar Kunst entsteht. Aber von Kunst wollen wir hier nicht reden. Kunst ist sowieso ein fragwürdiges Ding und hat oft mehr mit den menschlichen Sozialbeziehungen zu tun, als mit dem infrage stehenden Ding.
Schauen wir uns lieber die Literatur an. Dort haben wir die gleiche Unterteilung. Die gesamte Genreliteratur wird unter Verwendung von solchen Algorhythmen produziert, ein Krimi etwa ist ein Produkt, das nach einem Rezept funktioniert. Und das ist auch gut so, denn sonst käme kein funktionierender Krimi dabei heraus. Ich habe so viele Jahre hindurch Krimi-Autoren unterrichtet, ich kenne die Rezepte ganz genau.
Das ist auch der Grund, warum Schreibkurse versprechen können, dass sie einem das Schreiben beibringen. Gemeint ist damit immer das Schreiben von Genre-Literatur. Und da es auf dem Buchmarkt kaum noch etwas anderes als Genre-Literatur gibt, so ist das auch richtig und notwendig. Und die allermeisten, die das Schreiben erlernen wollen, die wollen genau das, nichts anderes. Die wollen die Rezepte, was ihnen auch niemand verübeln kann. Denn man will ja Bücher verkaufen. Und die Leser lesen in der Regel gar nichts anderes mehr, als solche Literatur. Klar, es gibt immer noch einige Autoren, die zumindest gekauft werden, weil sie einen Namen haben. Ob sie dann nach dem Kauf auch gelesen werden, dass ist eine andere Frage. Gelesen wird vor allem die Genre-Literatur. Deshalb muss man lernen, sie richtig zu produzieren. Und nur bei dieser Literatur können Sie als AutorIn auch jedes Jahr oder jedes halbe Jahr hingehen und sich vornehmen, eine neue Folge zu schreiben. Das können Autoren anderer Bücher gar nicht.
Was ist also mit dieser anderen Art von Literatur? Wie soll man die eigentlich nennen? Soll man sagen, also das eine ist die Genre-Literatur und das andere die Nicht-Genre-Literatur? Klingt blöd, oder? Meine Frau war vor einigen Jahren mal auf einem Wochenend-Seminar einer Frankfurter Agentin, die junge Autoren an den Buchmarkt heranzuführen versprach. Sie unterrichtete, was man zum Beispiel bei Thrillern machen müsse, was bei Love-Stories, wie es mit der Phantasie-Literatur aussähe usw. Und als meine Frau dann einwandte, sie schriebe sowas aber alles nicht, da hieß es:
– Ei, was schreiben Sie denn?
– Naja, Literatur eben!
– Also, wenn Sie meinen, dass Sie Literatur machen müssen, dann müssen Sie schauen, wie Sie alleine klarkommen. Mit Literatur kenne ich mich nicht aus.
Sie merken es sicher schon, Sie sollten niemals zu laut sagen, dass Sie Literatur schreiben. Denn erstens ist Literatur längst zu einer Art Schimpfwort geworden, weil man davon ausgeht, dass das ja sowieso unverkäuflich ist. Und zweitens kommen Sie leicht in den Verdacht, ein eingebildeter Idiot zu sein, der sich für was Besseres hält.
Aber vergessen wir das mal, zumal sich ja sowieso nichts daran ändern lässt. Und nennen wir diese andere Literatur, obwohl der Begriff längst abfällig benutzt wird, nennen wir dieses zweifelhafte Objekt einfach weiter „Literatur“. Was ist mit der? Wo kommt die her? Warum schreibt das jemand?
Nun, eigentlich muss sich diese Literatur gar nicht legitimieren, denn sie war natürlich schon lange da, bevor in den letzten Jahrzehnten der Tsunami der trivialen Genre-Literatur über die Büchertische zu rollen begann. Aber die Fragen bleiben. Was ist das? Woher kommt sie? Warum schreibt man sie?
Ich kann im Grunde natürlich nur für mich sprechen. Ich habe die Romane geschrieben, die ich geschrieben habe, weil ich mich dazu durch eine starke emotionale Erschütterung angetrieben fühlte. Meinen Roman „Calvinos Hotel“ etwa verdankt sich der Erschütterung, die der Bosnien-Krieg über Jahre in mir ausgelöst hat. Hätte es diese Erschütterung nicht gegeben, dann hätte ich auch niemals die Kraft aufgebracht, über viele Jahre an diesem Buch zu schreiben. Es wäre schier über alle Möglichkeiten gegangen.
Und so ist es mit all meinen Romanen. Da ist kein Buch dabei, das ich geschrieben hätte, weil ich einfach mal eine Idee für irgendwas gehabt hätte. Ideen habe ich wie Sand am Meer, aber darum geht es überhaupt nicht. Geschweige denn, dass ich etwas geschrieben hätte, weil ich meinte, das ließe sich vielleicht gut verkaufen oder sei gerade aus irgendeinem Grunde interessant und im öffentlichen Fokus. Selbstverständlich habe ich auch wie jeder andere alle möglichen Gedanken dieser Art, aber ich wüsste einfach nicht, warum ich damit einen Teil meiner Lebenszeit verschwenden sollte. Ich käme mir sonst vor als stünde ich vor Petrus, der mich fragt, womit ich mein Leben verbracht habe, und ich müsste sagen, ich habe Häkeldeckchen gebügelt.
Ich kann nur etwas tun, wofür ich eine tief empfundene Notwendigkeit in mir spüre. Und ich denke, dass es letztlich allen Autoren, die keine Genre-Literatur schreiben, so oder ähnlich gehen muss. Denn überlegen Sie mal, was für eine enorme Herausforderung es darstellt, etwas machen zu wollen bzw. zu müssen, wofür es kein Vorbild gibt. Etwas, wofür es keinen Algorithmus gibt, dessen Form man also selbst neu entwickeln muss, bevor man es überhaupt schreiben kann. Keiner meiner Romane ist so wie der andere. Weder von den behandelten Stoffen, Themen, Inhalten her, noch vor allem von der Form her. Und die Form ist das allerwichtigste. Ohne sie zu finden, zu entwickeln, geht gar nichts. Für die Form, die Griechen wussten es noch, braucht es einen Gott. Aber ich weiß, dass Ihnen das keine Aussage ist, der Sie irgendeinen Sinn abgewinnen können. (Sie brauchen es mir also nicht zu sagen.)
Naja, und ansonsten dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass man, abgesehen von dem überaus starken emotionalen Antrieb, aus dem heraus solche Bücher nur entstehen können, das Handwerk des Schreibens selbstverständlich so sehr beherrschen muss, dass man es fast schon wieder vergessen kann. Und dann erst die Sprache, nach der ja bekanntlich niemals jemand fragt, höchsten, wenn sie dem Leser zu schwer ist, weil sie dann nämlich unangenehm auffällt.
Wodurch legitimieren sich solche Bücher? Wodurch legitimieren sich Kartoffeln, Nudeln, Brot? Nun, einfach aus der Notwendigkeit, dass Sie sie brauchen, um essen zu können. Sie würden ja sonst vielleicht verhungern. Aber meine Bücher brauchen Sie nicht zum Leben. Das meinen Sie zumindest, auch wenn es ein Irrtum ist. (Warum, das könnte ich Ihnen erklären, aber der Artikel hier ist eh schon viel zu lang.)
So schreibe ich Bücher, die für mich eine tiefe persönliche Notwendigkeit besitzen. Und von denen ich weiß, dass die Welt sie ebenfalls braucht. Aber die Welt weiß es nicht. Das ist der übliche Vorgang. Hubert Fichte hat vor ewigen Zeiten, auf die Frage, warum er schreibe, mal gesagt: Er schreibe für eine Welt, die nicht mehr lesen könne und vielleicht gar keine Augen mehr hat.
Das, so finde ich, ist okay. Wenn der große Hubert Fichte das konnte, dann kann ich das auch.
Ich rate Ihnen, schreiben Sie, wenn Sie überhaupt schreiben, Genre-Literatur, denn ich möchte ja,
dass Sie glücklich bleiben.
Ihr PHG
PS: Vielleicht schreibe ich Ihnen, die nächsten Tage, noch eine Fortsetzung, erklärend, was diese ‚Literatur‘, die ich für eine aussterbende halte, eigentlich tut, was man von ihr bekommt und hat, das Sie von der Genre-Literatur nicht haben können, niemals haben werden. Vielleicht.